Seelennacht
letzten Tage hatte ich dieses Vor-Gefahren-Wegrennen oft genug geübt, so dass mein Hirn die Beine jetzt ganz automatisch in Gang brachte. Die schmerzenden Füße waren vergessen.
Derek blieb dicht hinter mir, und ich hörte seine Schritte hämmern.
»Chloe!«, brüllte er, als mir eine Gestalt in den Weg trat.
Er packte mich an den Schultern, und meine Füße flogen vom Boden hoch, bevor ich auch nur aufgehört hatte zu rennen. Er manövrierte uns beide mit dem Rücken gegen die Kletteranlage. Ein Mann kam in unsere Richtung geschlendert. Ein zweiter näherte sich aus einer anderen Richtung. Zwei Fluchtwege, beide versperrt. Derek sah an der Kletteranlage hinauf, aber wir standen vor einer soliden Plastikwand, drei Meter über uns hing ein Krähennest. Ein paar Schritte weiter gab es eine Rutschstange, aber die würde uns nicht weiterhelfen.
Die beiden Männer schienen zwischen zwanzig und dreißig zu sein. Einer war groß und hager und hatte blondes Haar, das bis zum Kragen reichte. Er trug eine karierte Jacke und Stiefel und sah aus, als hätte er sich seit Tagen nicht rasiert. Der andere war kleiner und breiter gebaut und hatte dunkles Haar. Er trug eine Lederjacke und Turnschuhe.
Keiner von ihnen sah aus wie die Sorte Typen, von denen man erwartete, dass sie in Parks herumhängen und Teenager um Zigaretten und Taschengeld anschnorren. Bei einem Monstertruck-Rennen herumzuhängen und die Mädchen um Namen und Telefonnummern anzuhauen – das schon eher.
Auch betrunken schienen sie nicht zu sein. Sie kamen geradewegs auf uns zu, und ihre Augen wirkten klar. Sie glitzerten im Dunkeln wie …
Ich schrak zurück.
Dereks Hände schlossen sich fester um meine Schultern, er beugte sich vor und flüsterte mir zu: »Werwölfe.«
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34
D ie beiden Werwölfe blieben ein paar Schritte von uns entfernt stehen.
»Wir sind bloß auf der Durchreise«, sagte Derek, seine Stimme klang ruhig. »Wenn das hier euer Territorium ist …«
Der Blonde schnitt ihm mit einem Lachen das Wort ab. »Unser Territorium? Hast du das gehört, Ramon? Er fragt uns, ob das hier unser Territorium ist.«
»Ich weiß, dass ihr Werwölfe seid, und ich weiß …«
»Werwölfe?«, fragte Ramon gedehnt. »Hat er gerade
Werwölfe
gesagt?«
Der Blonde hob einen Finger zu einer übertriebenen »Pssst!«-Geste an die Lippen und zeigte mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf mich.
»Sie weiß Bescheid«, sagte Derek.
»Ts, ts. Das ist aber gegen die Regeln, Welpe. Man erzählt seinen Freundinnen nicht, was man ist, auch nicht, wenn sie wirklich niedlich sind. Hat dein Daddy dir denn keine Manieren beigebracht? Übrigens, wer ist dein Daddy?«
Derek sagte nichts.
»Er ist ein Cain«, sagte Ramon.
»Meinst du?« Der Blonde legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Könnte fast sein.«
»Wenn du mehr als einem davon begegnet wärst, Liam, dann würdest du’s jetzt nicht bezweifeln. Das«, er zeigte auf Derek, »ist ein Cain. Es gibt drei Dinge, die alle Cains gemeinsam haben: Groß wie ein Haus, hässlich wie ein Bauzaun, dumm wie ein Stein.«
»Dann ist er aber kein …«, begann ich, bevor Derek mir zu verstehen gab, ich sollte still sein.
Liam trat näher. »Hast du was gesagt, Süße?«
»Wir sind auf der Durchreise«, sagte Derek. »Wenn das euer Territorium ist, dann entschuldige ich mich …«
»Hörst du das, Ramon? Er
entschuldigt
sich.« Liam kam einen weiteren Schritt näher. »Du hast keine Ahnung, auf wessen Territorium du bist, oder?«
»Nein, ich kenne euch nicht. Wenn ich das sollte, dann …«
»Das hier ist
Rudel
territorium.«
Derek schüttelte den Kopf. »Nein, das Rudel sitzt in Syracuse …«
»Du glaubst, die beanspruchen bloß eine Stadt?«, fragte Ramon. »Ihr Territorium ist der
Bundesstaat
New York.«
»Du weißt ja, was das Rudel mit Eindringlingen macht, oder, Welpe?«, fragte Liam. »Dein Daddy muss dir die Fotos doch gezeigt haben.«
Derek antwortete nicht.
»Die Fotos?«, beharrte Liam. »Von dem letzten Typ, der sich auf Rudelterritorium verirrt hat?«
Derek sagte immer noch nichts.
»Dein Daddy hat nicht viel für dich übriggehabt, oder? Wenn er’s nämlich gehabt hätte, dann hätte er dir diese Fotos gezeigt, damit du nicht den Fehler machst, den du jetzt grade begehst. Als ein Mutt das letzte Mal zu dicht an die Rudeljagdgründe rangekommen ist, haben sie ihn mit der Kettensäge auseinandergenommen. Dann haben sie Fotos gemacht, und die haben sie verteilt, damit der
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