Seelenrächer
hinzuziehen, der seinen Bruder verhören sollte. Der stellvertretende Polizeipräsident, der als Maguires Vorgesetzter die Verantwortung für die Ermittlungen trug, war bereits unterwegs vom Garda-Hauptquartier zur Einsatzzentrale, um mit ihnen das weitere Vorgehen zu besprechen.
»Wir haben keine Zeit für solche Dinge«, gab Quinn gerade zu bedenken. Sie saßen zu dritt in seinem Büro, wo sie die Tür geschlossen und die Jalousien heruntergelassen hatten. Quinn deutete auf die Uhr. »Jede Sekunde ist kostbar, Frank. Wir dürfen keine Zeit damit verschwenden, jetzt noch einen neuen Mann einzuarbeiten.«
»Ich kann dich auf keinen Fall mehr in Patricks Nähe lassen, falls es das ist, was dir vorschwebt«, erwiderte Frank. »Du hast schon mehr als genug gegen die Vorschriften verstoßen.«
Doyle ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. »Moss hat recht, Frank«, erklärte er. »Uns bleibt keine Zeit, und derjenige, der am besten mit Patrick reden kann, bist du.«
Frank wirkte nicht sehr überzeugt. »Meinst du wirklich?«
»Natürlich. Der Junge hat immer zu dir aufgeblickt. Als ihr noch Kinder wart, warst du sein Fels in der Brandung. Du warst alles, was er hatte.«
»Stimmt, das war ich.« Frank nickte. »Zumindest die ersten zehn Jahre seines Lebens.« Er bekam schlagartig rote Augen. »Mit elf ist dann seine ganze Welt zusammengebrochen.«
»Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen, Frank«, meinte Doyle. »Selbst wenn du nicht so scharf darauf gewesen wärst, zur Polizei zu gehen, hätte das Jugendamt dir deinen Bruder auf keinen Fall gelassen. Er wäre so oder so in irgendeinem Heim gelandet. Da war er doch besser in Islandbridge aufgehoben, wo du zumindest die Mönche kanntest. Auch wenn er gerade diese provozierenden Sachen gesagt hat, ist mir all die Jahre nie zu Ohren gekommen, dass in Islandbridge irgendetwas nicht ganz astrein abgelaufen wäre.«
Frank schlug die Hände vors Gesicht. Einen Moment hatte es den Anschein, als bräche er gleich in Tränen aus. Doch er riss sich am Riemen. Mit einem Räuspern wandte er sich wieder Quinn zu.
»Diese Kette … Unsere Mutter trug genau so eine um den Hals, nachdem man ihren Leichnam fürs Begräbnis hergerichtet hatte. Paddy und ich waren gemeinsam in der Leichenhalle, um sie ein letztes Mal zu sehen.« Er schwieg einen Moment und rieb sich mit den Fingerspitzen über die Augen. »Habt ihr mit Liam Ahern über meinen Bruder gesprochen?«
»Ja, haben wir«, antwortete Doyle, »allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Er passt genau ins Profil, Frank, das brauchen wir dir ja wohl kaum zu sagen.«
Frank schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ihr habt recht«, erklärte er, »der einzige Mensch, der mit ihm sprechen kann, bin ich. Wenn der stellvertretende Polizeipräsident eintrifft, dann informiert ihn bitte über den Stand der Dinge.« Mit diesen Worten griff er nach seiner Jacke und ging.
Sie beobachteten, wie er in aufrechter Haltung die Einsatzzentrale durchquerte. Natürlich starrten ihn auch alle anderen an.
Murphy klopfte gegen die offene Tür. »Moss«, sagte sie, »die Kollegen von der Spurensicherung haben sich gerade gemeldet. Wegen der Telefonzelle in Harold’s Cross. Sie haben alle möglichen Fingerabdrücke gefunden, aber nichts, womit wir etwas anfangen können.«
»Danke Keira, einen Versuch war es wert.«
»Was sollen wir mit Jimmy Hanrahan machen, nachdem nun Patrick verhaftet ist?«
Quinn wechselte einen Blick mit Doyle. »Gute Frage. Er ist noch nicht aus dem Schneider – nicht, solange wir weiter im Dunklen tappen. Lass ihn, wo er ist, Murphy. Das kann nicht schaden.«
Er trat ans Fenster. Diverse Bilder wirbelten durch seinen Kopf: Patricks böser Ausbruch von vorhin; der alte Hanrahan mit Pferd und Karren; Eva, die langsam ins Koma fiel. Als er daraufhin einen Blick auf die Uhr warf, kam es ihm vor, als würden die Zeiger absichtlich ein wenig schneller ticken, um ihn zu verhöhnen.
Er musste an die Nachricht denken, die letzte Meldung des Entführers. Seine Frau war ganz allein , und wenn Patrick ihnen nicht sagte, wo sie zu finden war, dann … würde sie es immer sein .
Mittwoch, 3. September, 21:30 Uhr
Frank Maguire setzte sich mit seinem Bruder in denselben Verhörraum, in dem sie auch mit Jimmy Hanrahan gesprochen hatten.
Patrick saß ihm gegenüber. Sein Zorn war verraucht, er wirkte inzwischen eher verloren – so hilflos und durcheinander wie das verängstigte Kind, das Frank elf Jahre lang
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