Seelenrächer
da, vielleicht ist sie zum Supermarkt gefahren. Wir haben doch gestern Abend fast die ganze Milch aufgebraucht. Bestimmt kommt sie gleich zurück. Am besten, wir ziehen uns schon mal an und machen uns für die Schule fertig.«
Eine halbe Stunde später saßen sie am Küchentisch. Der Rest einer Packung Cornflakes war auf zwei Schüsseln verteilt, sie hatten jedoch nicht mehr genug Milch zum Darübergießen. Man hörte nur das Ticken der Wanduhr.
»Sie ist nicht zum Supermarkt gefahren, oder?«, fragte Jess.
Laura gab ihr keine Antwort. Mit starrem Blick saß sie da, ohne sich von der Stelle zu rühren, und hielt ihren Löffel, als wollte sie jeden Moment anfangen zu essen.
»Ich rufe Dad an«, brach sie schließlich das Schweigen. Sie glitt von ihrem Stuhl und ging hinüber in die Diele. Die Handynummer ihres Vaters war im Telefon gespeichert, sie brauchte sie nur aufzurufen und auf Wählen zu drücken. Sie wartete eine Weile und wandte sich dann stirnrunzelnd an ihre Schwester. »Es geht niemand ran, sein Handy ist ausgeschaltet.«
»Versuch es noch einmal«, forderte Jess sie auf.
Laure tat, wie ihr geheißen, aber es ging noch immer niemand ran. »Warum hat Dad sein Handy abgeschaltet?« Aus ihrer Stimme klang plötzlich Panik. »Sein Telefon ist doch sonst nie abgeschaltet!«
Jess griff nach der Hand ihrer Schwester. »Keine Mam, kein Dad. Wo sind sie?«
»Es ist bestimmt nichts Schlimmes«, antwortete Laura. »Dad hat sein Telefon heute einfach noch nicht eingeschaltet, das ist alles – oder vielleicht ist der Akku leer.« Krampfhaft überlegte sie, was nun zu tun war. Sie ging durch die Diele zur Haustür und öffnete sie. Unterhalb der Treppe hatte der Regen der vergangenen Nacht kleine Pfützen gebildet. Hand in Hand spähten die beiden Mädchen die Straße auf und ab, doch von ihrer Mutter war nichts zu sehen.
Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt waren, nahm Laura das Adressbuch vom Telefontisch und blätterte es durch.
»Was hast du vor?«, fragte Jess.
»Ich rufe Onkel Joe an.« Laura griff nach dem Telefon. »Nanny und Grandad Quinn sind weggefahren, und Nanny Clare ist in Kerry. Ich rufe Onkel Joe an, Jess. Der kann uns bestimmt sagen, was wir tun sollen.«
Montag, 1. September, 07:00 Uhr
Von Westen her wehten weitere Regenwolken heran. Jimmy Hanrahan bog in die Zufahrt ein, schaltete den Motor ab und stieg aus seinem Land Rover. Er ging durch kniehohes Unkraut und blieb dann einen Moment stehen, um sich eine Zigarette zu drehen. Nebenan hörte er das Pferd seines Vaters im Stall rumoren. Er würde dort ausmisten müssen, der Alte war dazu wohl nicht mehr in der Lage, und wenn Jimmy es nicht machte, wurde es gar nicht gemacht.
Er zog an der Zigarette, die nur aus ein paar Fäden Tabak bestand. Aus Gewohnheit drehte er sie immer noch so, wie er es damals als junger Kerl gelernt hatte, nachdem sie ihn eingebuchtet hatten. Den Blick zum Himmel gerichtet, kreiste er ein paar Mal mit den Schultern. Durchs Küchenfenster hörte er seinen Vater wie einen Irren vor sich hin murmeln. Bestimmt war er nachts wieder auf gewesen und hatte überall mit dem Weihwasser herumgesprenkelt, das der Priester aus Ballylongford ihm gegeben hatte.
Er zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, und während er den Rauch in die Luft hinausblies, ließ er sich auf dem alten Motorrad nieder, das inzwischen nur noch ein Rostkübel war. Einen Fuß aufs Pedal gestützt, betrachtete er die tief hängenden, wie mit violettgrauen Blutergüssen versehenen Wolken, die sich gerade über den Resten von Lislaughtin Abbey sammelten. Von seinem Platz aus konnte er das hölzerne Gartentor und das zerfallene Cottage sehen, auf das ein paar Jahre zuvor ein amerikanischer Tourist zugesteuert war, um dort zu pinkeln. Der Geruch hatte ihn angezogen. Die Maden. Unmengen von Fliegen, noch im Larvenstadium.
Jimmy hatte vom selben Platz aus zugesehen und wie jetzt eine Selbstgedrehte geraucht. Überall Polizei. Ein Krankenwagen, ein Helikopter. Mannschaften der Spurensicherung in weißen Overalls. Quinn und Doyle aus Dublin.
Sein Vater hatte seinen dunklen Anzug angezogen und sich einen Schal um den Hals gewickelt, ehe er das Pferd anspannte und seine Dienste als Sargträger anbot. Doyle war wohl recht nett zu dem alten Kerl gewesen und hatte ihn reden lassen, als er mit seinen Geschichten anfing. Doyle war inzwischen ein Dubliner, auch wenn Jimmy ihn noch von früher her kannte. Er musste daran denken, wie man Maggs’ Mutter tot
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