Seelenrächer
Korridor errichtet hatte. Währenddessen versuchte er die ganze Zeit, in seinen Kopf hineinzubekommen, was passiert war. Eine verstellte Stimme. Eine tickende Uhr. Noch nie in seinem Leben war ihm so kalt gewesen.
Montag, 1. September, 09:21 Uhr
Im fünften Stock des Polizeigebäudes am Harcourt Square holte sich Doyle am Automaten eine Tasse Kaffee und machte sich damit auf den Rückweg zu seinem Schreibtisch. Murphy war noch immer nicht nach Naas aufgebrochen. Ein Anruf aus einer entlegenen Polizeidienststelle hatte sie aufgehalten: Ein Priester war tot in seiner Kirche aufgefunden worden, und die Kollegen vor Ort brauchten jemanden zur Unterstützung. Sie hatte die Einweisung der neuen Einheit auf Mittag verschoben und sich erst einmal um den toten Geistlichen gekümmert. Nach einer ersten Bestandsaufnahme würde sie den Fall jedoch an einen Kollegen vom Morddezernat abgeben. Während sie nun damit beschäftigt war, Akten in eine Mappe zu stopfen, ging die Tür auf, und ein junger Mann von der Posteingangsstelle kam herein.
»Ist Inspector Quinn hier irgendwo?«, wandte er sich an sie.
Murphy sah, dass er ein weißes Kuvert bei sich hatte. »Ist das für ihn? Sie können es mir geben.«
Erst jetzt fiel ihr auf, wie seltsam der Junge das Kuvert hielt: die Seitenkante auf der flachen Hand, so dass er die Oberfläche kaum berührte. Auf dem Umschlag prangte Quinns Name in Druckbuchstaben, die aus einer Zeitung ausgeschnitten waren.
Doyle, der gerade mit seinem Kaffee vorbeikam, blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte erst den Umschlag an, dann Murphy. Schließlich stellte er seinen Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch ab, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und breitete es auf dem Tisch aus. Die anderen Detectives registrierten das plötzliche, angespannte Schweigen. Einer nach dem anderen hob den Kopf und blickte zu ihnen herüber.
»Leg den Umschlag auf das Taschentuch«, instruierte Doyle den Jungen aus der Postabteilung.
Der tat, wie ihm geheißen. Doyle nahm einen Brieföffner von einem der Schreibtische und schnitt das Kuvert vorsichtig auf. Es enthielt nur eine einzelne Polaroidaufnahme: Das Bild zeigte einen dunklen Stein auf einem Stück Sand. Doyle kniff die Augen zusammen, und Murphy zog eine Augenbraue hoch. Die anderen Detectives kamen herüber.
»Sergeant?«, wandte Murphy sich an Doyle.
Der griff wortlos nach dem Telefon und wählte Quinns Handynummer.
Mit blitzendem Blaulicht und Murphy als Beifahrerin traf Doyle auf dem Friedhof ein. Quinn, der am Kotflügel seines Wagens lehnte, richtete sich auf. »Kannst du hier warten, bis die von der Spurensicherung kommen, Keira?«, wandte er sich an Murphy. »Ruf mich an, wenn sie da sind. Ich möchte mir alles erst noch einmal genau ansehen. Vorher will ich niemanden auf dem Friedhof haben.«
»In Ordnung«, antwortete sie.
»Sag ihnen, dass der Tatort gesichert ist. Es ist alles mit Band abgesperrt – zumindest der innere Bereich. Lass jemanden kommen, der noch eine zusätzliche äußere Absperrung anbringt.«
Sie sah ihm in die Augen und nickte.
»Erzähl mir von dem Foto«, wandte Quinn sich an Doyle, während sie sich auf den Weg zum Grab machten.
Doyle hatte den Kragen seiner Jacke hochgeklappt und die Hände in die Taschen geschoben. »Was soll ich da viel erzählen? Es ist ein Polaroid-Foto: ein Stück Sand mit einem Stein darauf. Vermutlich wurde es irgendwo an einem Strand aufgenommen. Es kam in einem Umschlag mit deinem Namen drauf.«
»Handgeschrieben?«
»Nein, ausgeschnittene Buchstaben. Dubliner Poststempel.«
Quinn blieb einen Moment stehen, die Hand auf dem Arm des Sergeant. »Das Grab«, sagte er, »es hat dort ein Handgemenge oder so was gegeben. Ich bin mir ganz sicher. Man kann es an den Fußabdrücken sehen, und auch am Grab selbst.« Sein Blick wirkte plötzlich gehetzt. »Sie ist entführt worden. Ich weiß es einfach.«
Mit steinerner Miene blickte Doyle über das Fleckenmuster der Gräber hinaus auf das offene Gelände und die Bäume. Dort hinten teilte sich die Eisenbahnlinie. »Wer um alles in der Welt würde die Frau eines Polizisten entführen? Ist dir eigentlich klar, was du da sagst, Moss? In Gottes Namen, du bist Detective! Wer sollte so etwas tun?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Quinn, »aber jemand hat mir ein Foto geschickt, und auf Dannys Grab ist etwas passiert. Gerade eben hat mich irgendein Typ angerufen, um mir zu sagen, dass die Uhr tickt.«
Wieder nahm er das Grab in Augenschein, einen
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