Seelenrächer
Arm vor der Brust, den Ellbogen angewinkelt, einen Finger an den Lippen. Er sah sich genau an, wie die abgebrochenen Nelkenstiele rund um den Grabstein verstreut waren. Diese Schnittblumen waren ganz frisch gewesen und vor weniger als vierundzwanzig Stunden auf das Grab gelegt worden. Das Durcheinander konnte also kaum vom Regen herrühren. Quinn ging in die Hocke und betrachtete die Schicht aus kleinen weißen Kieselsteinen, die er und Eva so gleichmäßig verteilt hatten. Nun waren sie hier und dort zu kleinen Bergkämmen zusammengeschoben. Wieder warf er einen Blick zu Doyle hinüber. »Jemand hat auf dem Grab gelegen.«
Doyle, auf dessen Stirn sich inzwischen tiefe Furchen abzeichneten, ging neben ihm in die Knie.
»Siehst du, wie die Blumen flachgedrückt und die Stiele zum Teil abgebrochen sind?« Quinn deutete auf das Grab. »Sieh dir die Steinchen an. Und die Abdrücke: Der hier stammt vom Absatz eines Damenschuhs, der daneben von der Sohle eines Herrenschuhs. Sie sind einander zugewandt. Sieh mal, wie klein der Abstand zwischen ihnen ist!« In seinen Schläfen begann das Blut zu pochen. »Sie ist hergekommen, um Dannys Grab zu besuchen, und der Kerl ist ihr entweder gefolgt oder hat hier schon auf sie gewartet.«
Mit zusammengekniffenen Augen besah er sich jeden Stein, jeden grünen Stiel, jedes abgerissene Blütenblatt. Etwa auf halber Höhe des Grabes entdeckte er etwas Funkelndes. Er zog einen Stift aus seiner Tasche und fischte damit ein Stück von einer Kette zwischen den Steinchen heraus. Es waren nur ein paar Glieder, aber man konnte genau sehen, dass sie beschädigt waren, das Metall aus der Form gezogen. Er wusste genau, was das war und woher es stammte. Eva hatte die Kette gestern getragen. Wer auch immer sie entführt haben mochte, hatte ihr vorher die Kette vom Hals gerissen.
Montag, 1. September, 09:30 Uhr
Sie lag irgendwo in einem Loch. Wo, wusste sie nicht. Über ihr befanden sich Bodendielen und darüber Teppich oder vielleicht auch Linoleum. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Schweiß klebte wie eine dünne Schicht Eis an ihrer Kleidung, welche wiederum feucht und kalt an ihrer Haut klebte und ihr sämtliche Wärme aus dem Körper zog. Eva lauschte angestrengt, um herauszufinden, wo sie war. Sie bildete sich ein, sie könnte Wasser tropfen hören. Wasser. Wasser. Sie hatte solchen Durst. Aber nein, es war kein Wasser, sondern das schwache Ticken einer Uhr. »Tick-tack, tick-tack.« Während sie so dalag, kam es ihr vor, als würde es immer lauter. Dann hörte sie noch ein anderes Geräusch: einen Schritt. Sie spürte seine Schwingung durch den Boden. War da jemand?
Sie verharrte ganz still und lauschte, doch aus Sekunden wurden Minuten, in denen sie nichts mehr hörte. Falls da tatsächlich jemand war, bewegte er sich nicht. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet: als säße eine reglose Spinne in einer Ecke des Netzes, in dem sie wie eine Fliege gefangen war.
Sie lag mit angewinkelten Beinen auf der Seite, die Arme auf dem Rücken. Ihre Hände und Füße konnte sie mangels ausreichender Durchblutung nicht mehr spüren. Ihre rechte Wange war von der Kälte so taub, dass sie sie ebenfalls nicht mehr spürte. Der Boden unter ihr war feucht. Sie roch Wasser und hörte das Tröpfeln von Wasser, konnte an gar nichts anderes mehr denken als an Wasser. Aber da war keines, sie kam an kein Wasser heran. Ihr Hals war derart trocken, dass er sich anfühlte, als würde er jeden Moment Risse bekommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie lange sie sich schon dort befand. Es musste sich um irgendeine Art Gebäude handeln. Sie hatte Schatten von Wänden wahrgenommen und Reste eines Dachs. Sie hatte gesehen, wie er Dielen vom Boden riss, ehe er ihr die Augen verband.
Er hatte sie vom Grab ihres Sohnes weggetragen und in den Kofferraum seines Wagens gelegt. Dunkelheit und Enge. Dass sie sich nicht bewegen konnte, lag nicht nur an den Fesseln, sondern auch an ihrer Umgebung selbst. Sie hatte Benzin gerochen und jede Gewichtsverlagerung wahrgenommen, jedes Geräusch des Motors. Dabei konnte sie die ganze Zeit nur an Jess und Laura denken.
Am liebsten hätte sie geschrien vor Entsetzen, vor Verzweiflung und Angst. Doch über ihrem Mund klebte schwarzes Band, so dass sie die Lippen kaum auseinanderbekam.
Mittlerweile ging das allerdings ein klein wenig besser. Sie versuchte, das Band einzusaugen, um es zwischen ihre Zähne zu ziehen und ein Loch hineinzubeißen. Atmen konnte sie
Weitere Kostenlose Bücher