Seelenrächer
beide mitnimmt.«
»Aber Mam«, stotterte er, »sie wird uns doch fragen, oder nicht?«
»Was denn, um Gottes willen?«
»Wie wir ihn genannt haben. Bestimmt will sie seinen Namen wissen.«
Sie starrte ihn einen Moment an. Dann starrte sie das Baby an, das mit voller Windel in dem Secondhand-Korb lag, den sie im Wohlfahrtsladen bekommen hatten.
»Er braucht einen Namen«, erklärte Frank beharrlich.
»Warum denkst du dir dann nicht einfach was aus, statt ständig bloß herumzunörgeln? Und währenddessen kannst du gleich seine Windel wechseln.«
Frank hob seinen kleinen Bruder aus dem Korb und trug ihn hinüber ins Bad, wo das Wasser vor sich hin tröpfelte und rund um den Abfluss des Waschbeckens ein dicker Kalkrand klebte. Er legte den Kleinen auf die Matte, zog ihm die Gummihose aus und nahm eine fast trockene Windel von der Heizung. Nach allem, was seine Mutter gesagt hatte, fürchtete er, nicht rechtzeitig fertig zu werden, und vor lauter Eile stach er sich an der Sicherheitsnadel.
Die Hebamme hatte es auf Babys abgesehen. Zumindest stellte seine Mutter es immer so dar, und wenn sie ausnahmsweise einmal daran dachte, ihn schon am Vortag über einen solchen Besuch zu informieren, dann quälten ihn in seinen Träumen jedes Mal Bilder von riesigen, düsteren Schulen, wo Priester durch endlose Gänge eilten und in weiter Ferne Kindergeschrei zu hören war.
Er entfernte die Schweinerei, in der sein Bruder lag, wusch ihm den Hintern und befestigte die frische Windel, so gut er konnte. Dann trug er den Jungen zurück ins Wohnzimmer. Seine Mutter saß bereits wieder in ihrem Sessel und kaute Kaugummi. Ihr Glas war gespült und weggeräumt.
»Ich habe mir einen Namen ausgedacht«, erklärte er. »Was hältst du von Patrick Pearse? Wir könnten ihn doch Patrick nennen, oder nicht? Ich meine, Patrick ist der Schutzpatron von Irland und Pearse war … es fällt mir gerade nicht ein, aber mein Lehrer hat mir etwas über ihn erzählt, da bin ich ganz sicher.«
»Was faselst du da?«
»Patrick, Mam. Wir könnten meinen Bruder Patrick nennen.«
Sie sah nicht einmal hoch, sondern starrte mit leerem Blick vor sich hin, die Hände über dem Schoß, die Finger wie zu Klauen verbogen.
»Mammy?«
»Herrgott noch mal«, murmelte sie, »nenn ihn, wie du willst, Junge, mir ist das scheißegal.«
Montag, 1. September, 18:00 Uhr
Doyle parkte vor der Liberty Hall, die mit ihren sechzehn Stockwerken – eine Etage für jeden der während des Osteraufstands erschossenen Märtyrer – das höchste Gebäude in Dublin war. Nur wenige erinnerten sich an dieses Detail, und vermutlich war die Zahl derer, denen es nach wie vor etwas bedeutete, noch um einiges kleiner, aber Doyle war fünfzig, und Geschichte – vor allem die irische – interessierte ihn schon, seit er damals fasziniert James O’Donohue gelauscht hatte, seinem alten Schullehrer aus County Kerry.
Einer von denen, die man damals hingerichtet hatte, war James Connolly, der breitbeinig wie ein Boxkämpfer dastand, das Kinn aufsässig hochgereckt. Auch in Bronze gegossen wirkte er noch genauso trotzig, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Es war eine Ironie des Schicksals, dass die Briten ihn wehrlos im Sitzen erschossen hatten, weil er nach der Belagerung des alten Postamts bereits am Knöchel verletzt war. Die Statue hatte man anlässlich seines achtzigsten Todestages aufgestellt, und Doyle war damals bei der Enthüllung gewesen.
Doyle selbst war ein Dinosaurier, und das wusste er auch, aber es gab trotzdem noch ein paar wie ihn. Er ging stets seinen eigenen Weg, das hatte er immer schon getan. Obwohl seine Familie seit jeher republikanisch eingestellt gewesen war, hatte ihn das nicht davon abgehalten, zur Polizei zu gehen. Kaum ein anderer Detective hatte bei der Irish Republican Army mehr Feinde gehabt als er, bis dann gegen Ende des Nordirlandkonflikts das Gerücht laut geworden war, sein ältester Bruder Cahal sei eine wichtige Figur bei der IRA. Mittlerweile jedoch lagen diese Zeiten lange zurück, und Cahal war nach Amerika gegangen.
Damals, im Jahr 1974, hatte Doyle gerade mal zwei Dienstjahre hinter sich, als eines Tages in der Talbot Street, wo er gerade Streife ging, drei Bomben explodierten, eine davon direkt vor ihm. Dreißig Menschen kamen an jenem Tag ums Leben. Die Ulster Volunteer Force aus dem Norden übernahm die Verantwortung, aber je näher die Garda das Attentat unter die Lupe nahm, umso mehr Indizien wiesen auf eine Beteiligung des britischen
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