Seelenrächer
glitt sie in Träume ab. Ihre Gedanken schwirrten hierhin und dorthin. Gedanken. Worte. Das Tick-Tack der Uhr.
Makabre Bilder quälten sie. Die Augenbinde war verrutscht, so dass sie schmale Lichtstreifen sehen konnte. Hielt sie die Augen jedoch geschlossen, dann verschmolz die Dunkelheit mit der Vergangenheit. Sie fühlte sich zurückversetzt in jene ersten Stunden, die sie mit Moss in Listowel verbracht hatte. Das indische Restaurant an der Ecke: scharfes Essen und Krüge mit eisgekühltem Wasser.
Obwohl Patrick damals gegenüber von Corin gesessen hatte, war offensichtlich, dass er kein Interesse an ihr hatte. Genau wie Moss hatte er nur Augen für Eva. Hinterher sagte Corin zu Eva, dass ihr das nichts ausgemacht habe. Nach all den Jahren sei sie daran gewöhnt. Trotzdem war es peinlich. Eva entdeckte durchs Fenster Conor. Er ging mit gesenktem Kopf vorüber, als hätte er sie nicht bemerkt. Obwohl sie halb aufstehen musste, um hinausspähen zu können, beobachtete sie, wie er den Platz überquerte und auf der anderen Seite Stellung bezog wie ein Wachposten – wenn auch in diesem Fall ein unerwünschter.
»Das ist doch wieder dein Bekannter, oder?«, fragte Moss. »Den scheint es ja ganz böse erwischt zu haben.«
»Er ist schon in Ordnung. Mein Onkel Joe hat ihn ständig auf dem Kieker, aber so schlimm ist er gar nicht.«
»Der guckt so komisch. Du weißt schon, wie jemand, der sich einbildet, einen Anspruch auf einen anderen Menschen zu haben.«
»Ich war nett zu ihm, als wir noch Kinder waren, das ist alles.«
»Eva ist viel zu nett zu allen, so ist sie nun mal«, murmelte Corin.
Eva sah sie von der Seite an. »Er ist kein schlechter Mensch, Corin. Manchmal spinnt er ein bisschen, aber so schlimm, wie die Leute sagen, ist er nicht. Er hatte eine schwierige Kindheit und Jugend, das ist alles.«
»Dein Onkel Joe ist da etwas anderer Meinung«, meinte Quinn.
»Ja, mein Onkel Joe spielt sich gerne als mein Ersatz-Dad auf, obwohl er selbst nie verheiratet war und bei einem Baby nicht mal unterscheiden könnte, an welchem Ende es kotzt und an welchem es kackt.«
Als sie wieder aufwachte, war ihre ganze linke Seite taub. Von dem kalten Steinboden oder der feuchten Erde – worauf auch immer sie unter den ramponierten Holzdielen liegen mochte. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie schrecklich und aussichtslos ihre Situation war: Sie lag unter den hölzernen Dielen wie in einem Grab. Genauso war es der armen Mary Harrington ergangen. Nur dass er dieses Mal zurückgekommen war, um auf sie hinunterzustarren. Sie wusste, dass er das getan hatte. Obwohl sie nichts sah und außer dem Ticken der Uhr auch kaum etwas hörte, hätte sie hin und wieder schwören können, das er über ihr stand.
Anlässlich des letzten Spiels des Turniers hatte sich eine recht ansehnliche Menge versammelt. Eva stand mit ihren Freundinnen an der Seite des Feldes und feuerte die Heimmannschaft an, auch wenn sie in Wirklichkeit nur Augen für die Dubliner Nummer zehn hatte. Er verwandelte jeden Strafstoß und erzielte darüber hinaus noch einen besonders schönen Treffer, bei dem er den Ball direkt in der Ecke des Tores platzierte.
Als Spieler des Tages ausgezeichnet, bekam er eine Flasche Champagner überreicht, doch statt sie gleich zu öffnen, schob er sie unter seine Jacke. Später, als alle anderen gerade darüber diskutierten, wohin sie zum Essen gehen wollten, nahm er Eva beiseite, und sie stiegen gemeinsam in den Wagen ihrer Mutter.
Patrick sah sie davonfahren. Wobei er durchaus eine Spur von Neid empfand. Von der anderen Seite des Parkplatzes sah ihnen noch jemand nach: Conor Maggs. Er hasste Rugby und Sport im Allgemeinen. Eva wusste genau, dass er nur ihretwegen da war, und fragte sich allmählich, ob es ihm ein masochistisches Vergnügen bereitete, einen anderen Mann an ihrer Seite zu sehen.
Natürlich war da ein anderer Mann an ihrer Seite, auch wenn das Conor im Grunde gar nichts anging, weil sie nie mit ihm zusammen gewesen war – außer vielleicht in seiner Vorstellung. Nun aber war Moss Quinn aus Dublin bei ihr. Am Vorabend hatte er sie nach Hause begleitet, und sie hatten über seinen Job gesprochen und über seine Wohnung. Über die beruflichen Chancen, die man als junge Frau in der Hauptstadt hatte. Eva war noch keine neunzehn und bisher kaum aus ihrem Heimatort herausgekommen. Sie hatte gerade mal die Schule hinter sich und erzählte Moss von ihrem Plan, in einem Fach die Abschlussprüfung zu wiederholen, die sie
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