Seelenrächer
nach vorne, was sie fast wie eine Hexe aussehen ließ. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie zwischen ihren Söhnen hin und her und nickte dabei langsam mit dem Kopf. Dann ließ sie plötzlich mit einer Behändigkeit, die man ihr gar nicht zugetraut hätte, eine Hand vorschnellen und schlug Frank ins Gesicht.
»Du kleiner Mistkerl«, zischte sie, »du raffinierter kleiner Mistkerl! Deiner Mammy Geld zu stehlen, Frank! Deiner Mammy Geld zu stehlen!«
»Mam!«, schrie Patrick sie an. Aus den Augen des Fünfjährigen sprach so viel Gift, dass seine Mutter einen Schritt zurückwich.
Aber sie fing sich schnell wieder. »Was fällt dir ein, Junge, mich derart anzuschreien?«
»Lass Frankie in Ruhe!«, rief er.
Sie schlug erneut zu, diesmal mit der Faust, woraufhin Patrick quer über den ganzen Flur flog. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er eine blutige Lippe, doch noch denselben mörderischen Ausdruck in den Augen.
Wieder wich seine Mutter zurück. »Heilige Muttergottes, wenn Blicke töten könnten! Ich schwöre, du hast den Teufel im Leib!«
Dienstag, 2. September, 16:05 Uhr
Wie lange war sie weg gewesen?
Wie lange hatte sie hier bewusstlos unter der Uhr gelegen? Inzwischen konnte sie wieder sehen, es war ihr endlich gelungen, die Binde von ihren Augen zu schieben. Sie war ihrem Grab entkommen. Der Durst hatte sie hinausgetrieben. Nachdem das Wasser in ihrem Loch zu Ende gegangen war, hatte sie ihre ganze restliche Kraft zusammengenommen, um die schweren Bodendielen hochzustemmen und sich Zentimeter für Zentimeter – durch mühsames Schlängeln – bis zu einer Pfütze Regenwasser vorzukämpfen, die sich auf dem Boden gebildet hatte. Auf der Seite liegend, schaffte sie es, ihren zugeklebten Mund in das Wasser zu tauchen und durch das Loch etwas Flüssigkeit einzusaugen. Es war nicht genug – es würde niemals reichen. Aber vielleicht half es ja, nicht noch mehr ins Delirium zu fallen.
Obwohl Eva die Uhr vom Boden aus nicht sehen konnte, hörte sie ihr Ticken hoch über sich: tick-tack, tick-tack .
Sie wusste, dass die Uhr eine wichtige Rolle spielte. Sie war nur allzu gut über die Bedeutung des Zeitfaktors informiert. Sie wusste, was mit Mary Harrington passiert war, und ihr war auch durchaus bewusst, dass sie selbst bereits am Verdursten war. Ihre Sinne stumpften immer mehr ab, ihr Magen trocknete langsam ein. Ihre Lippen. Die Zunge. Der Hals. Die Gliedmaßen. Ihr Gedärm verschrumpelte. Ihre Eingeweide fühlten sich jetzt schon an wie ausgeleierte Gummibänder, die einmal zu oft gedehnt worden waren.
Das Gesicht gegen den Boden gepresst, lauschte sie angestrengt, in der Hoffnung, erneut die Stimmen zu hören, die sie bereits einmal zu vernehmen geglaubt hatte. Sie war sicher, dass Danny nach ihr gerufen hatte. Bestimmt versuchte er schon die ganze Zeit, sie zu sich zu winken, und rief dabei ihren Namen, weil er wollte, dass sie zu ihm kam. Er war ihr jetzt so nahe, dass sie ihn fast berühren konnte.
Es war verlockend: ihr kleiner Junge, der auf sein Rad gestiegen und so weit fortgefahren war. Sie brauchte nur noch die Augen zu schließen und sich in den Schlaf hinübergleiten zu lassen, dann wäre sie bei ihm.
Jess und Laura: Plötzlich sah sie ihre Gesichter ganz deutlich vor sich. Als sie daraufhin doch noch einmal die Augen aufschlug, sah sie das Dach über ihrem Kopf. Durch ein paar Löcher in den Schindeln konnte sie Wolken erkennen: Wolken, die sich am Himmel türmten.
Leben.
Ein einzelnes Wort, das sich klar und deutlich in ihrem Kopf abzeichnete.
Ich lebe. Mein Name ist Eva. Ich bin Eva-Marie Quinn, und ich habe zwei kleine Mädchen. Ich weiß, dass ich zwei kleine Mädchen habe.
Mein Ehemann heißt Moss, und er sucht nach mir. Der Name meines Ehemannes ist Moss. Er ist Polizist und sucht nach mir.
Auf einmal hörte sie Schritte. Sie klangen seltsam verzögert, wie eine Art weit entferntes Echo: Schritte, die sich von draußen näherten.
Und sie lag hilflos auf dem Boden, entflohen aus dem Grab.
Sie kamen immer näher. Es waren gleichmäßige, zielstrebige Schritte. Sie wusste, dass er zurückkehrte. Nach einem kurzen Moment der Stille ging die Tür langsam auf. Da stand er, die Arme locker an den Seiten, die Hände in Handschuhen. Sie konnte ihn nur undeutlich sehen, seine Gesichtszüge verschwammen im Nebel ihrer Verwirrung. Trotzdem fiel ihr auf, wie seine Finger sich verkrampften. Dann drang wieder diese raue, heisere Stimme an ihr Ohr.
»Eva, mein Liebling, was machst du
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