Seelenrächer
jetzt beeindruckt es mich erst recht nicht.«
Dienstag, 2. September, 15:45 Uhr
Frank Maguire trat vor die Tür. Er tastete nach dem Rosenkranz, den er immer in der Hosentasche hatte.
Während er das Rückgebäude umrundete, um Ruhe vor der Presse zu haben, schwirrten ihm lauter Erinnerungen durch den Kopf: Bilder aus einer Vergangenheit, die er eigentlich längst unter den Teppich gekehrt hatte. Doch genau wie der Geruch einer eitrigen Wunde ließen sich diese Erinnerungen einfach nicht ausmerzen.
Obwohl er sich an seinen eigenen Dad nicht erinnern konnte, wusste er noch genau, wie der Vater seines Bruders ausgesehen hatte. Er war eines Tages aufgetaucht, nachdem ein sowjetisches Schiff in Dublin angelegt hatte, woraufhin die gesamte Besatzung sofort geflüchtet war. Es war die Zeit des Eisernen Vorhangs gewesen: Viele Männer flohen damals auf diese Weise aus der UdSSR. Gutaussehend genug, um eine alleinerziehende Mutter, die zu viel trank, um den Finger zu wickeln, war er auf der Suche nach einem Platz, wo er sich verstecken konnte, und wurde fündig. Er blieb neun Monate: genau lange genug, um die Geburt seines Sohnes noch mitzubekommen. Dann war er weg. Von dem Tag an machte seine Mutter den Jungen dafür verantwortlich.
Es war ein Tag wie jeder andere, als Frank aus der Schule nach Hause kam: Nachdem er die Betontreppe zu ihrer tristen kleinen Wohnung hinaufgestiegen war, fand er sie mal wieder schlafend in ihrem Sessel vor, wie immer im Alkoholdelirium. Patrick saß neben ihr auf dem Boden.
»Hallo Paddy, mein Junge, wie geht’s dir?« Mit dem liebevollen Lächeln, das er für seinen Bruder reservierte, nahm Frank den Kleinen hoch und drückte ihn fest.
»Frankie, unsere Ma schläft immer noch. Sie schläft schon die ganze Zeit!«
»Du weißt doch, dass sie immer schläft. Aber was ist mit dir, Kleiner, geht es dir gut? Hast du was gegessen?«
Paddy schüttelte den Kopf.
Frank sah ihn an. Mit einem schmerzhaften Ziehen in der Brust ließ er den Blick von seinem Bruder zu seiner Mutter wandern. Bei ihrem Anblick empfand er plötzlich einen tiefen Hass. Er fragte sich, ob es nicht langsam Zeit wurde, dass er jemandem davon erzählte. Bisher hatte er es immer geheim gehalten, weil er, seit er denken konnte, in der Angst lebte, in ein Heim zu kommen und von seinem Bruder getrennt zu werden.
Nachdem er Paddy an dem kleinen Tisch abgesetzt hatte, zog er das leere Glas zwischen den Fingern seiner Mutter hervor. Anschließend kippte er den Inhalt des Aschenbechers in den Müll und säuberte ihn. Seine Mutter rührte sich noch immer nicht. Ihr Kopf hing auf eine Seite. Angewidert betrachtete er ihr fettiges Haar.
Frank hasste sie. Bevor sein Bruder zur Welt gekommen war, hatte er nicht gewusst, wie Hass sich anfühlte. Damals gab es nur sie beide, und Frank kam damit klar. Seine Mutter trank zu der Zeit auch noch nicht so viel, oder vielleicht merkte er es nur nicht, weil er noch so klein war.
»Hast du Hunger, Paddy?«, wandte er sich an seinen Bruder.
»Ja, und wie!« Der Kleine tätschelte seinen Magen, und Frank konnte es darin gurgeln hören. Bestimmt hatte er seit den Cornflakes, die er ihm zum Frühstück gegeben hatte, nichts mehr bekommen. Manchmal, wenn Brot da war, strich er ihm zusätzlich ein Marmeladenbrot und deponierte es in einem Versteck, so dass Patrick ein bisschen was zum Mampfen hatte, bis Frank wieder nach Hause kam.
An diesem Tag aber war kein Brot da und ansonsten auch kaum etwas. Als Frank einen Blick in den Kühlschrank warf, kam er zu dem Schluss, dass sie wohl würden hungern müssen. Dann erspähte er auf der Arbeitsplatte die Handtasche seiner Mutter. Sie hatte ein paar Münzen in der Börse. Vielleicht reichte es für eine Wurst mit Pommes am Imbiss unten an der Straße. Damit würden sie sich begnügen müssen. Und wenn ihre Mutter es merkte, dann merkte sie es eben. Sie konnten nicht einfach ohne Essen auskommen. Bei ihr war das etwas anderes, sie trank so viel, dass sie ansonsten wohl nichts mehr brauchte, aber Jungs mussten essen.
Eine Stunde später, nachdem sie sich an der Imbissbude ein Paar zerknautschte Würstchen und eine Portion Pommes geteilt hatten, brachte Frank seinen Bruder wieder nach Hause. Leise schloss er die Tür auf und legte demonstrativ einen Finger an die Lippen, bevor er Patrick in Richtung ihres gemeinsamen Zimmers zog.
Doch ehe sie es sich versahen, schwang die Tür auf, und ihre Mutter stand vor ihnen. Das Haar hing ihr über eine Schulter
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