Seelenrächer
denn da? Zurück ins Bett mit dir!«
Vor Verzweiflung hätte sie am liebsten laut geschrien, aber sie hatte ja nur das winzige Loch im Klebeband, und das durfte sie ihm nicht zeigen. Er steuerte quer durch den Raum auf sie zu, griff nach der Augenbinde und schob sie wieder an Ort und Stelle. Dann hob er sie hoch und trug sie mit wenigen Schritten die Strecke zurück, für die sie kriechend eine ganze Ewigkeit gebraucht hatte.
Dienstag, 2. September, 16:15 Uhr
Auf der O’Connell-Brücke herrschte reger Verkehr. Die ersten Pendler beeilten sich, nach Hause zu kommen, vielleicht in einen ruhigen Küstenort oder hinaus aufs Land. Maggs saß in einem Taxi, unterwegs zu Janes Wohnung, und klopfte gedankenverloren mit einem Fingernagel gegen seine Zähne. Er dachte gerade an die Gebetsstunde, die er für diesen Abend in Harold’s Cross einberufen hatte.
Seit zwei Tagen war Dublin ein Meer aus Polizei – mit dem üblichen Tamtam: heulenden Sirenen und blinkenden Blaulichtern. Gerade rauschten wieder zwei Fords mit Blaulicht vorbei. Während sie das Taxi überholten, spürte Maggs nun schon zum zweiten Mal, wie der Fahrer ihn prüfend musterte.
»Kenne ich Sie nicht aus dem Fernsehen oder so?«, fragte der Mann schließlich.
Maggs betrachtete den Hinterkopf des Mannes: weißes Haar, in den Sechzigern – mit einem Rasseln in der Stimme, das bestimmt von zu vielen Zigaretten herrührte.
»Schon möglich«, antwortete er knapp.
»Was sind Sie denn für eine Berühmtheit?«
Maggs lachte leise. »Ich schätze mal, das hängt davon ab, wen Sie fragen. Meine Freundin würde Ihnen antworten, dass ich ein Mann Gottes bin. Fragen Sie dagegen die Polizei, werden Sie zu hören bekommen, ich sei ein Mörder.«
Der Taxifahrer warf einen überraschten Blick in den Rückspiegel. Dann ging ihm ein Licht auf. »Lieber Himmel, jetzt weiß ich es: Sie sind der Typ, den die Bullen verprügelt haben! Da war doch dieser Prozess im Frühjahr, bei dem das alles ans Licht gekommen ist.«
Maggs gab ihm keine Antwort.
»Ging es dabei nicht um die junge Frau, die man in Mayo gefunden hat?«
»In Kerry.«
»Ach ja, richtig, in Kerry. Dann sind Sie also derjenige, der unter Verdacht stand.« Er grinste leicht verlegen. »Was ist denn nun wirklich passiert? Waren Sie es? Haben Sie sie umgebracht?«
»Klar«, antwortete Maggs.
Wieder starrte der Mann verblüfft in den Rückspiegel. Dann verzog sich sein Mund samt Oberlippenbart zu einem Grinsen. »Ich schätze, nach der Antwort habe ich verlangt, was?«
»Ja, schätze ich auch.« Sie waren inzwischen am südlichen Ende der Lower Camden Street angekommen. Maggs reichte ihm einen Zehn-Euro-Schein. »Der Rest ist für Sie.«
Statt auf direktem Weg zur Wohnung zurückzukehren, unternahm er noch einen kleinen Spaziergang, den gleichen wie kürzlich abends: am Portobello-Hotel vorbei und dann den Kanal entlang, in Richtung der Bronzestatue von Patrick Kavanagh. In dieser Ecke lebte Patrick Maguire. Maggs wusste, in welchem Haus sich seine Wohnung befand: dem letzten der älteren Häuser, vor den großen, in den Sechzigern gebauten Blöcken, mit Blick auf die Schleuse. Patrick Maguire, den er vor all den Jahren in Kerry kennengelernt hatte. Patrick Maguire, der in Mountjoy Gefangene besuchte und der vor Gericht gegen ihn ausgesagt hatte.
Nach seinem Treffen mit Quinn fühlte Maggs sich irgendwie befreit, auch wenn er die alten Ressentiments gegen Doyle noch immer nicht losgeworden war. Das machte ihn wütend, aber böses Blut war nun mal böses Blut, daran ließ sich wohl nichts ändern. Dafür war ihm ein weiterer Fernsehauftritt beschert worden, und den hatte er sehr genossen: sein erstes Interview seit dem Prozess im April. Völlig in Gedanken versunken, nahm er seine Umgebung erst wieder wahr, als ein Auto viel zu knapp an ihm vorbeifuhr. Sonst hätte er gar nicht bemerkt, dass auf einer Bank unterhalb der Mauer, wo ein Treidelpfad den Kanal entlangführte, die Wasserratte saß. Er erkannte den Mann sofort wieder: Jug Uttley, der Kerl mit dem großen Plappermaul, den er im Gefängnis kennengelernt hatte. Allem Anschein nach legte er gerade eine Verschnaufpause ein, ehe er sich auf den Weg zur nächsten Tränke machte. Tagsüber hingen Saufbrüder wie er gerne am Kanal herum. Auf einmal dämmerte es Maggs: Jetzt wusste er, wer Doyle den Weg zu Janes Tür gewiesen hatte!
Ohne zu merken, wer sich da näherte, erhob Uttley sich von seiner Bank. Über ihm beugte Maggs sich über die
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