Seelenrächer
Leute davon aus, dass er und sein Bruder Dubliner Jungs waren, deren Eltern im Ausland lebten. Letztendlich entsprang seine Geheimniskrämerei nur dem Wunsch, den Mantel des Vergessens über eine peinliche Kindheit zu breiten – eine Kindheit, wie es sie längst nicht mehr hätte geben dürfen. Für ihn gehörten solche Zustände in die dunklen Zeiten, als die Iren noch alles Englische verbrannten, abgesehen von englischer Kohle.
Nun stieg er in Patricks Wohnung die Stufen zum Wohnzimmer hinauf. Nur der Verkehrslärm, der von der Charlemont Bridge herüberdrang, störte die Ruhe. Und das Ticken der Uhr. Frank verglich den Stand ihrer Zeiger mit dem auf seiner Armbanduhr: Sie ging ein wenig vor. Er war bereits im Begriff, das zu korrigieren, überlegte es sich dann aber anders.
Neben der Uhr stand das Foto. Ein nichtssagendes Gesicht, mal abgesehen von dem verlebten Ausdruck in den Augen. Er betrachtete das geflochtene Haar und die schmale, von Lücken durchbrochene Rauchsäule, die von ihrer Zigarette aufstieg. An ihrem Hals funkelte ein Hauch von Gold: der Herz-Jesu-Anhänger, den er in natura zum letzten Mal gesehen hatte, als er und Patrick auf ihren offenen Sarg hinunterblickten.
Als Junge war Paddy davon höchst fasziniert gewesen. Vor seinem geistigen Auge sah Frank seinen kleinen Bruder und seine Mutter, die vor lauter Alkohol mal wieder nicht mitbekam, wie ihr ungeliebter Sohn auf ihren Schoß kletterte. Dort saß er dann und spielte mit jener Halskette herum, als würde sie ihn dabei im Arm halten wie eine richtige Mutter – was sie für ihn nie war.
Eine Made kroch ihr ins Gehirn; so hieß es zu jener Zeit, doch nur Mary weiß Bescheid .
Die Worte hallten durch Franks Kopf, während er sich am Tisch niederließ. Sein Blick schweifte über die Bäume und die parkenden Autos hinüber zum Kanal. Er hörte die Uhr ticken: Tick-tack, tick-tack, die Maus und die Uhr. Tick-tick-tack. Bleibt die Uhr steh’n, ist’s um die Maus gescheh’n.
Als er die Augen schloss, konnte er seinen Bruder wieder weinen hören.
Bereits auf dem Hof hatte er das laute Schluchzen gehört. Da er schon sein Leben lang lauschte, ob seinem Bruder etwas fehlte, erkannte er die Stimme sofort. Mit seinen knapp achtzehn Jahren wünschte Frank sich nichts sehnlicher, als auf die Polizeischule zu gehen, und überlegte schon die ganze Zeit, wie er das seiner Mutter beibringen sollte. Paddy war inzwischen elf. Wenn Frank nach Templemore ging, würde sein Bruder allein mit ihr zurückbleiben. Er hatte schon mit ihm darüber gesprochen. Er hatte ihm zu erklären versucht, dass er nun doch schon ein großer Junge sei und bestimmt klarkommen werde, aber Pat war völlig zusammengebrochen.
Frank begann zu rennen. Mit ein paar großen Sätzen hatte er die Grasfläche überquert und stürmte in das stinkende Treppenhaus, die betonierte Treppe hinauf, die in die oberen Stockwerke führte. Oben angekommen, stürzte er auf die Wohnungstür zu – die wie üblich abgesperrt war. Während er mit der einen Hand gegen die Tür donnerte, fummelte er mit der anderen den Schlüssel ins Schloss.
Mit zwei Schritten durchquerte er die kleine Diele, riss die Wohnzimmertür auf – und sah Paddy auf den Fersen kauernd zu ihrer Mutter hochstarren, die mit steifen Armen und zurückgeworfenem Kopf in ihrem Sessel hing.
Ein schwerer Schlaganfall, erklärte ihnen der Arzt, herbeigeführt durch jahrelange Depressionen und jahrelangen Alkoholkonsum. Selbst wenn Frank zu Hause gewesen wäre, hätte er nichts tun können. Sie war tot, und nichts hielt ihn nun noch davon ab, zur Polizei zu gehen. Möge Gott ihm verzeihen: Sechs Wochen später war Patrick bei den Ordensbrüdern in Islandbridge, und er an der Polizeischule in Templemore.
Dienstag, 2. September, 16:45 Uhr
Quinn rief die Kollegen aus Kerry an und bat sie, Schüreisen-Jimmy im Polizeirevier von Terenure abzuliefern, das im Süden der Stadt lag, ein altmodisches, vierstöckiges Ziegelgebäude mit einem Schieferdach. Der dortige DI war ein Freund von ihm und versprach dafür zu sorgen, dass Jimmy es schön gemütlich hatte.
Anschließend kamen die Kollegen herauf zum Harcourt Square, und Murphy nahm die Kamera in Empfang. Quinn und Doyle schnappten sich die Schachtel mit den Polaroid-Aufnahmen, um die Fotos gemeinsam durchzusehen.
In der Hauptsache handelte es sich um Schnappschüsse, die Jimmy beim Jagen gemacht hatte: Wild, das er erlegt hatte, und Vögel. Jede Menge Kaninchen. Es gab aber auch
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