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Seelenschacher

Seelenschacher

Titel: Seelenschacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mucha
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Alles, was ich also zu tun hatte, war zu hoffen, dass unser Fahrer eine der Kurven den Berg hinab ein wenig zu schwungvoll anging. Oder härter bremsen würde. Wenn dann alles schnell ginge, wäre ich draußen und in Sicherheit. Mit ein paar blauen Flecken bestenfalls. Das Einzige, was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, war die Tatsache, dass drei von zehn VW-Bustüren klemmen. 66 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit also. Im Backgammon eine Bank, im echten Leben eine Katastrophe.
    Ich machte also ein bekümmertes Gesicht und wartete. Die beiden Typen grinsten mich an. Ich grinste innerlich zurück. Äußerlich war ich zerknirscht und mutlos. Die harten Kurven den Berg hinab brachten nicht das gewünschte Ergebnis. Obwohl der Fahrer raste wie ein Henker, warf die Revolvermänner nichts aus dem Gleichgewicht. Sobald wir in der Stadt wären, konnte ich nur mehr auf rote Ampeln hoffen. Ich blieb trotzdem wachsam und gespannt. Man konnte auch eine nur kleine Chance nützen.
    Kaum hatte ich das gedacht, war sie schon da. Wir setzten über ein paar Straßenflicken und danach mussten die rechten Reifen auf ein Stück Straße gekommen sein, wo der Asphalt abgebrochen war. Jedenfalls genug. Der Fahrer bremste und der Bus schwankte. Ich riss die Arme hoch, klappte den Schnapphebel um, drehte mich um und sprang hinaus. Die beiden rutschten halb von den Reifenkästen, versuchten sich festzuhalten und konnten nicht mal daran denken, mich an der Flucht zu hindern. Die gesicherten Knarren waren ihnen auch keine große Hilfe. Das alles sah ich aus dem Augenwinkel, kurz bevor ich auf dem Asphalt aufschlug.
    Zuerst Erleichterung, dann Schmerz, dann mehr Schmerz, noch ein bisschen Erleichterung, und dann noch mehr Schmerz. Schwer zu entscheiden, welcher Körperteil am meisten abgekriegt hatte. Jedem das Seine, mir das meiste, schienen sie verlangt zu haben, und für einmal waren diese Wünsche auch erfüllt worden.
    Obwohl sich mir alles drehte, gelangte ich irgendwie auf die Beine. Der VW-Bus kam keine 20 Meter entfernt zum Stehen. Die Anabolikagebirge sprangen heraus. Ich nahm Reißaus. Über einen Gartenzaun, durch den dahinterliegenden Garten hindurch, an einem kleinen Gewächshaus vorbei, dann wieder über einen Zaun in den nächsten Garten. Dort dann den Hügel hinunter, durch eine Thujenhecke, und durch noch mehr Gärten. In einem davon saß ein Pärchen bei einer Flasche Wein. Sie auf seinem Schoß. Ich glaube, die merkten nicht mal, dass ich vorbeihetzte. Schließlich kam ich auf die Straße. Vom Bus war nichts zu sehen, allerdings hörte ich ihn schon. Also ab über die Straße, an der Südseite des Ottakringer Bads vorbei – Gott segne die Fahrradwege mit den Stahlstipfeln, Autos können dort nicht fahren – und hinter einer Familienkutsche kauerte ich mich in wieder eine Thujenhecke.
    Ich atmete tief, bis ich Schritte hörte. Dann hielt ich die Luft an, so gut es ging. Als die Schritte vorübergezogen waren, wagte ich immer noch nicht zu atmen. An Land ersticken wollte ich dann auch nicht, und so holte ich schließlich doch Luft. Nun, als das Adrenalin nachzulassen begann, kamen die Schmerzen zurück. Obwohl, so richtig weg gewesen waren sie nie. Meine rechte Schulter brannte weißglühend. Mein Hüftgelenk stand dem kaum nach, auch an der rechten Seite. Ansonsten brannte es etwas an Knien und Ellenbogen. Das schienen Abschürfungen zu sein, davon hatte ich überhaupt ein paar. Am rechten Backenknochen und sonst auch noch.
    Geduld ist eine Tugend. Also wartete ich, bis mir ein Blick auf meine Uhr sagte, dass sie den Sprung nicht überstanden hatte. Da waren nur noch Glasbrösel, und die Zeiger regten sich auch nicht mehr. Die Omega Seamaster hatte ich von meinem geliebten Urgroßvater geerbt. Schwarzes Ziffernblatt, weiße Zeiger, keine Zahlen. Für eine Herrenuhr war sie überhaupt recht klein. Nicht so ein protziges Ding, wie man sie heute hat. Ich hatte immer mit der Uhr gespielt, als ich als kleiner Bub auf seinem Schoß saß, Geschichten vorgelesen bekam und eingelegte Kirschen aß. Die Kirschen kamen vom eigenen Baum, dem Stolz der Familie. Einmal im Jahr, bei der Ernte, musste mein Vater in den uralten Riesen steigen, während Uropa von unten Anweisungen gab. Obwohl er seit Jahrzehnten nicht mehr im Baum gewesen war, kannte nur er alle morschen Stellen. »Immer die Kerne ausspucken«, hörte ich die Urgroßmutter, »sonst bleiben sie im Blinddarm stecken, und dann muss man ihn herausschneiden.« Das hatte sie

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