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Seelenschacher

Seelenschacher

Titel: Seelenschacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mucha
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Ein halbes Jahr später steht der fertige Bau und niemand kann mehr nachschauen, auch wenn man wollte. Experten zufolge sollen in den Fundamenten des neuen Westbahnhofs schon so viele schwarze Müllsäcke stecken, dass die Statik dadurch leicht beeinträchtigt wird. In 10.000 Jahren kommen dann ein paar Archäologen, die der Meinung sein werden, dass unsere Zivilisation daran geglaubt habe, die Menschenopfer hätten den Fundamenten mehr Sicherheit gebracht.
    Die Uhr tickte. Es ging auf halb zu. Ich musste mich beeilen.
    »So, trinken Sie aus.«
    »Wieso?«
    »Ich muss Sie fesseln.«
    »Warum?«
    »Hopp!« Ich hielt ihm die Knarre ins Gesicht. Er zögerte einen Moment. Doch irgendwie schien er zu bemerken, dass ich ihn nicht allzu gerne hatte. Also leistete er Folge. Ganz kurz musste ich mit mir selbst kämpfen, um ihm nicht einfach so grundlos die Pistole ins Gesicht zu schlagen. Sogar ich habe Prinzipien. Auch wenn sie schon etwas eingerostet sind und meistens aus dem Secondhand-Laden in der Schandekstraße stammen.
    Oben im Schlafzimmer schnürte ich ihn ein wenig zusammen. Nicht fest, nur so, dass er sicher nicht telefonieren konnte, bis seine Leibwächter zu Hause sein würden. Ein bisschen knebelte ich ihn auch. Leise war besser. Dann öffnete ich den Tresor und legte die Knarre zurück an ihren Platz. Anschließend schloss ich die Tür und deckte ihn mit der rotseidenen Bettdecke zu. Vielleicht brachte das noch mal zehn Minuten zusätzlich, bis Kanas Leute entdecken würden, dass ihr Chef gar nicht ruhig schlummerte. Die zehn Minuten würde ich bei dem, was ich noch so vorhatte, gut brauchen können. Auch wenn ich hoffte, ihm Sand in die Augen gestreut zu haben. Es würde keinen guten Eindruck bei Korkarian hinterlassen, wenn mitten in unsere Verhandlungen über Schaubergers Notizbuch Kana mit seinen Gorillas auftauchen würde.
    Schließlich verließ ich das Haus auf dem normalen Weg. Die schwere Stahltür, die mit dem unknackbaren Schloss, fiel hinter mir zu. Allerdings bemerkte ich, dass der Rahmen in der Wand ein wenig zitterte. Ich bin kein Experte, aber die Tür schien sich aushebeln zu lassen.

VI
    Sobald ich draußen war und die Eingangstüre geschlossen hatte, holte ich mein Handy raus und wählte eine Nummer. Nach dreimaligem Läuten nahm Korkarian ab.
    »Ja, bitte.« Er klang überhaupt nicht verschlafen. Vielmehr klang er nach einer guten Rasur, einem pergamentfarbenen Hemd, einem dunklen Zweireiher und einer dezenten Seidenkrawatte.
    »Linder hier.«
    »Aha, diese Linder. Und?«
    »Sie hatten doch mal Interesse angemeldet, an so einem Notizbuch.«
    Kurze Stille in der Leitung.
    »Ja.«
    »Kennen Sie den Schottenhof an der Amundsenstraße?«
    »Das Gasthaus von Abu Talib?«
    »Genau. Ich warte dort am Parkplatz auf Sie.«
    »Warum?«
    »Kein Warum. Kommen Sie mich holen. Sofort.«
    »Gut.«
    Er hatte aufgelegt. Ich ging von der Straße ab, rechter Hand bergab, durch einen Waldstreifen, auf eine der frisch gemähten, duftenden Wiesen. Im Osten hellte der Himmel auf, während im Westen noch ein paar Sterne auf dunkelblauem Untergrund standen. Die Wiese war sehr frisch gemäht, duftete nicht nach Heu, sondern mehr nach Klee und Honig, schwer und feucht. Ein wunderbares Parfüm.
    Ich war im Laufschritt unterwegs, ein kleiner Fußweg war da ganz praktisch, bis ich zu einem Bächlein kam, das einen der Waldstreifen durchzog. Es war da keine Brücke. Aber da das Gras ohnedies nass war und deswegen meine Schuhe feucht, sprang ich einfach mit zwei großen Schritten durch.
    Als der kleine Bach hinter mir lag, ging es ein wenig bergauf. Als ich ernstlich zu schnaufen begann, hatte die Topografie Wiens ein Einsehen mit mir und ließ mich wieder bergab marschieren. Wieder kam ein kleiner Bach, wieder musste ich durch, wieder ging es danach bergauf. Zwar nicht steil, aber stetig. Es quatschte in meinen Schuhen. Der helle Himmel im Osten war eine Hilfe, in der Nacht hätte ich mich garantiert verirrt, aber so war es recht leicht, den richtigen Wegen zu folgen. Als ich dann auf die Amundsenstraße hinauskam, dämmerte es schon richtig. In der kühlen Morgenluft dampfte ich richtiggehend. Alles ringsum, die Bäume, der Gasthof, die Straße, war grau und feucht.
    Auf dem Parkplatz machte ich ein Auto aus. Elenas Fiat. Nein, der ihres Vaters. Ich ging darauf zu. Korkarian sah mich kommen, beugte sich herüber und öffnete die Tür. Der Motor lief schon. Drinnen war es warm, und eine träumerische, leicht melancholische

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