Seelensplitter: Thriller (German Edition)
auf dem Rasen und trinkt aus Flaschen. Man sitzt an einem großen Tisch im Königspesel, spielt Karten und hat sichtlich Spaß.
Nur nachts kommt das große Heulen. Davon gibt es allerdings keine Fotos.
Ein Gruppenbild im Garten der Pension, in der Mitte die schüchterne Carolin. Obwohl sie lächelt, liegt Schwere in ihrem Ausdruck.
Lina nimmt sich den Karton, verlässt den muffigen Dachboden und geht wieder hinunter in ihre Wohnung.
Panikattacken waren schließlich der Auslöser, es mit einer Therapie zu versuchen. Knapp zwei Jahre ist das jetzt her. Drei Mal hatte sie den Notarzt kommen lassen, zwei Mal war sie wegen hohen Blutdrucks in die Notaufnahme des Krankenhauses geschafft worden.
Die Panikattacken begannen schon morgens nach dem Aufwachen mit einem dumpfen Gefühl im Kopf, einem schmerzhaften Druck auf der Brust und zugleich unerträglichem Herzrasen.
Ihr Hausarzt hatte sie untersucht, ihr Nitrospray verschrieben, das die Adern weitet und den Blutdruck senkt, und ihr dringend eine Psychotherapie angeraten. Ansonsten könne sie ihren Beruf vermutlich nicht weiter ausüben. »Denn was ist, wenn Sie Ihre Waffe ziehen müssen und hyperventilieren?«, hatte er gefragt.
»Ich bin völlig klar im Kopf«, hatte sie erwidert.
»Es gibt jedenfalls keine erkennbaren körperlichen Ursachen«, hatte er gemeint und ihr die Adresse eines Therapeuten in die Hand gedrückt. »Der Mann ist Spezialist für Angststörungen.«
Im Wartezimmer hatte sie Carolin kennen gelernt und nach ein paar Wochen mit Einzelsitzungen die anderen Teilnehmer der Gruppe.
Lina erinnert sich an die ersten Gespräche mit dem sehr ruhig wirkenden Dr. Severin Carlheim. »Alles nur Gerede«, hatte sie einmal provozierend zu ihm gesagt. Der Therapeut hatte milde lächelnd geantwortet: »Darum geht’s. Um das Gerede in unserem Kopf.«
»Ich erzähle Ihnen von der roten Flüssigkeit, die früher in meinen Träumen regelmäßig unter der Tür durchgeflossen ist, und Sie sagen dann: Ha, ein Sinnbild für die Menstruation, für die Angst, zur Frau zu werden oder so.«
»Was ich sage, ist vollkommen egal. Haben Sie so einen Traum gehabt?«
»Immer denselben. Ich bin in einem völlig kitschigen Barockzimmer. Es riecht nach Babycreme, und unter der Tür fließt das Blut durch.«
Carlheim machte sich eine Notiz, während sie sich von der Liege aufrichtete.
»Es sind Sinnbilder, verschlüsselte Botschaften«, sagte Lina.
»Auf keinen Fall bin ich der Übersetzer oder Traumdeuter. Sie müssen es sich anschauen. Sie sind die Expertin.«
»Und dann verliere ich die Angst davor? Patientin geheilt und fertig?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carlheim. »Manchmal brauchen wir die Angst, um uns zu schützen. Aber wenn die Angst ein Eigenleben führt, engt sie unser Leben ein.«
»Was heißt das?«
»Nehmen wir an, Sie haben sich an einem Ofen verbrannt. Dann werden Sie in Zukunft alle Öfen sehr vorsichtig anfassen. Wenn Sie aber plötzlich Angst davor haben, Möbel zu berühren …«
»Möbel machen mir keine Angst, und mit meinem eingeengten Leben komme ich ganz gut klar.«
Der Therapeut hatte gelacht. »Nur der Bluthochdruck, der Sie in Panik aus den Träumen reißt, ist wohl nicht so schön.«
»Dafür muss es doch Tabletten geben.«
»Sie können hier Ihr Leben ein wenig … nun, sagen wir: weiten. Platz schaffen, Sperrmüll abfahren. Und das Beste …«
»Jetzt kommen Sie mit dem beschwingten, tollen Leben, das auf mich wartet, oder?«
»Nein, das Beste ist: Das bezahlt die Krankenkasse«, sagte Carlheim.
Drei Wochen später fand die erste Gruppensitzung statt.
Raushalten und nicht weiter auffallen. Sie musste unter Kontrolle behalten, wie viel sie vor den anderen von sich preisgab. Es gab Dinge, mit denen sie allein zurechtkommen musste. Besonders mit dem einen Ding .
Carlheim hatte in dem weitläufigen Therapieraum acht Stühle in einem Kreis aufgestellt.
Lina erinnert sich an die erste Sitzung. Sie war als Erste erschienen. Das stellte sie mit Entsetzen fest. Nun würden alle denken, dass sie diese blöden Gruppengespräche mit lauter gelangweilten oder gestressten Frauen gar nicht abwarten konnte …
Lina musterte die Wände, an denen afrikanische Masken, zwei Scherenschnitte aus Silberfolie, die ebenfalls Masken nachempfunden waren, und seltsame Bogen, Pfeile und Speere hingen. Nicht unbedingt das, was sie unter einer friedlichen Atmosphäre verstand.
Der gläserne Schreibtisch Carlheims war penibel aufgeräumt. Lediglich ein
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