Seelensplitter: Thriller (German Edition)
»Der alles wegfegt. Hinaus aufs Meer, wo es untergeht. Auf den Grund des Meeres zu den versunkenen Schiffen.«
Die Armee rückt vor. Zwei Abteilungen an die Flanke! Jetzt nicht nachgeben.
Jeden Abend liest der Weiße Drache vor. Von den Schlümpfen, die Waffen unter ihren Hüten tragen. Nachts rücken sie aus und kämpfen gegen das Böse. Und gegen das Rote.
Ein paar Minuten noch, dann wird sich der Schwarze Ritter auf das Rote legen. Wird in das Rote einstechen und laut aufschreien. Aber sie tun sich nicht weh. Das hat er gesagt. Es ist Liebe.
»Wir sind anders, verstehst du? Anders.«
Das Rote ist nackt. Bekomme ich auch solche Brüste? Ich will das nicht.
Der Weiße Drache sagt: »Das bestimmt die Natur. Da kann man nichts machen.«
3
Z eit gewinnen. Lina muss überlegen, was sie als Nächstes tut. Sie braucht eine Strategie. Wie kommt sie aus dieser Situation wieder heraus?
Es ist ihr unmöglich, Sven Einzelheiten über die Therapie zu erzählen. Schließlich ist er der Auslöser dafür gewesen. Und natürlich der Moment, in dem sie fast überfahren worden wäre. In dem ihr schlagartig klar geworden war, dass es so nicht weiterging. Dass sie so nicht mehr leben konnte. Dieses schwarze Loch, das sich immer dann vor ihr auftut, wenn sie nach Bildern aus ihrer Kindheit sucht.
»Lina, du musst schon mit mir reden. Was war das für eine Selbsterfahrungsgruppe?«, fragt Sven und reißt sie aus ihren Gedanken.
»Nichts Besonderes. Es ging um Kreativität, um Selbstbewusstsein. Es hat nichts hiermit zu tun.«
»Nur Frauen?«
»Ein schwuler Mann war auch dabei. Aber diesen Tunten, wie du sie nennst, würdest du sowieso keinen Mord zutrauen, richtig?«
Sven verdreht die Augen und trommelt auf den Tisch.
»Gut, geh jetzt nach Hause, wir machen das später«, sagt er. »Du brauchst Abstand.«
»Ich bin mitten in der Schicht …«
»Ich kläre das mit deinem Dienststellenleiter.«
Da ist es wieder. Das Sven-Gefühl. Sven, der Nette, Sven, der Beschützer, Sven, das Arschloch.
Keinen Kampf jetzt, denn sie muss Zeit gewinnen. Eine Geschichte muss her, die er schluckt. Die trotzdem die Ermittlungen nicht behindert.
Sie verlässt die Wohnung, kommt im Treppenhaus an den Kollegen vorbei, die sie nur stumm ansehen. Jeder scheint zu wissen, wie die Frau da oben ums Leben gekommen ist, und jeder hofft, dass er nicht in das Zimmer muss.
Aber was ist mit den Monstern, von denen Carolin gesprochen hat? Monster, die erwacht sind. Hört sich nach Kindheit an. Aber wessen Kindheit? Carolins? Und was hat sie damit zu tun? Warum ist Carolin nach all den Monaten ausgerechnet zu ihr gekommen? Weil sie wusste, dass sie Polizistin ist? In ihrer Vergangenheit gibt es keine Monster, die überlebt haben. Nur ein großes schwarzes Loch, das alles verschluckt. Besonders den Spaß am Leben.
Eine halbe Stunde später schiebt Lina einen Einkaufswagen durch den Supermarkt. Lebensmittel sind wichtig, wenn man sich in seine Wohnung zurückziehen will. Sie richtet sich auf mehrere Tage ein.
Nachdem sie die Einkäufe in ihrer Küche verstaut hat, öffnet sie eine Limonade und setzt sich in den weißen Ledersessel.
Sie braucht eine Strategie, darf nicht in Panik geraten. Unter allen Umständen muss sie ihre Fassade aufrechterhalten. Darf nicht in den Ermittlungsscheinwerfer ihrer Kollegen geraten.
»Die Monster sind erwacht.«
Wird sie nicht selber schon von einem Monster beobachtet? Es steht als Wächter vor dem schwarzen Loch, in dem sich ihre Kindheit verbirgt. Sie ist ihm begegnet. Damals, als das winzige Puzzlestück einer Erinnerung aus dem Loch herauswollte.
Ein Fest in einem Schrebergarten. Sie trägt ein weißes Sommerkleid mit rosa Blütenblättern darauf und sitzt auf einer Schaukel. Sie tut so, als würde sie nur schaukeln. Doch sie saugt jedes Wort auf, das am Kaffeetisch über sie gesprochen wird. Sie beobachtet die Personen am Tisch aufmerksam aus den Augenwinkeln.
»Ein entzückendes Mädchen«, sagt die ältere Frau.
»Wirklich niedlich. Und so vorsichtig«, erwidert die andere Frau, die nun ihre Mama ist.
»Fast zu schüchtern.«
»Das gibt sich mit der Zeit. Sie muss sich erst eingewöhnen.«
»Isst sie denn normal?«
»Ja, sie schlingt das Essen fast in sich hinein.«
»Aber sie ist spindeldürr, da muss Fleisch auf die Knochen.«
Das Monster hört ebenfalls zu. Steht seitlich am Tisch, in der Hand ein halbgefülltes Glas. Hört zu. Verzieht keine Miene.
Irgendwann, als sie Schwung auf der Schaukel holt
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