Seelensplitter: Thriller (German Edition)
30 Kilo schwerer sein dürfte. Auch seine Kleidung ist nicht weiter derangiert. Sie geht einen Schritt auf den Mann zu, der sie anlächelt. Sie hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, ob das ein echtes oder ein aufgesetztes Lächeln war.
»Sie hatten eine Meinungsverschiedenheit mit dem Herrn da draußen?«
»Ich fürchte ja.«
Gewähltes Deutsch, nicht betrunken, denkt Lina.
»Worum ging’s denn?«
»Die Mannschaftsaufstellung. Wir sind da nicht zusammengekommen.«
»Können Sie das nicht bitte draußen regeln?«, sagt der Wirt, nickt Richtung Bildschirm und zieht dabei ein Gesicht, als würde er gleich zu weinen beginnen.
Plötzlich weiten sich seine Augen. Der Chinese springt vor und reißt Lina zur Seite. Dann kracht es laut scheppernd über ihr. Sie zieht ihre Waffe und richtet sie auf den verdutzten Chinesen, der sie inzwischen losgelassen hat und die Arme in die Höhe hält.
»Sie heben jetzt …«
Doch weiter kommt Lina nicht. Unvermittelt löst sich ein Schuss und schlägt in ein neben der Bar hängendes Fußballtrikot ein.
Von draußen hört man wildes Geschrei. Alex wirft sich auf den in der Kneipentür stehenden Fußballfan, der offenbar beschlossen hat, die Rache selbst in die Hand zu nehmen. Trotzdem schafft der es, bereits den zweiten Aschenbecher in Richtung des Chinesen zu schleudern. Dann wirft Alex ihn zu Boden, setzt sich auf seinen Rücken und fixiert ihn mit Handschellen.
Immer noch auf dem Mann hockend, sieht Alex Lina beschwörend an und deutet auf die Waffe, die sie immer noch in der Hand hält.
»Scheiße!«, sagt Lina und sieht auf den Chinesen, der die Hände noch immer nach oben hält. Sein Lächeln ist einem verängstigten Ausdruck gewichen. Er lässt die Arme fallen, kratzt sich nervös am Ohr.
»Bitte nicht schießen«, sagt er.
Wie kann … Oh, nein! Sie hat gestern Nacht vergessen, die Sig Sauer wieder zu sichern, nachdem sie vermeintliche Geräusche in ihrer Wohnung gehört und sich auf die Suche gemacht hatte. Gespensterjagd in der eigenen Wohnung. In letzter Zeit kam das öfter vor.
Sie schiebt die Waffe ins Holster, befestigt den Sicherheitsriemen mit einem Druckknopf und hebt, zum Zeichen, dass nun nichts mehr passieren kann, ebenfalls die Hände.
Das wird gewaltigen Ärger geben. Nicht nur, dass sie vorschriftswidrig die Waffe mit nach Hause genommen hat, auch das Abfeuern der Kugel zieht mit Sicherheit eine Untersuchung nach sich. Herumballernde Kolleginnen waren ein gefundenes Fressen für die Interne Ermittlung.
Sie hat das Gefühl, im Chaos zu versinken. Ihre mühsam aufrechterhaltene Fassade bröckelt gefährlich, und ihr vermeintlich stabiles Gerüst schwankt. Wäre Carolin nicht bei ihr aufgetaucht und kurz danach ermordet aufgefunden worden, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, die Waffe mit nach Hause zu nehmen.
Erst jetzt nimmt Lina die anderen Kneipengäste wahr. Manche stehen wie angewurzelt da, während die zweite Nationalhymne soeben zu Ende gespielt wurde. Der Wirt taucht hinter dem Tresen auf. Zwei Männer, die neben einem Spielautomaten am Tisch gesessen hatten, liegen in Deckung auf dem Boden. Drei andere stehen leicht gebückt vor einer Tür, die vermutlich in die Küche führt.
Der verletzte Fußballfan dreht den Kopf und blickt überrascht vom Boden auf Lina, während Alex immer noch auf dessen Rücken kniet und sie ebenfalls anstarrt.
Lina nimmt die Situation wie in Zeitlupe wahr. Nur die Stimme des munter plappernden Fußballreporters passt nicht dazu.
»Ich bitte Sie, das war hier doch alles ganz harmlos«, sagt der Chinese.
»Alles in Ordnung«, ruft Lina und wiederholt noch einmal deutlich lauter: »Alles in Ordnung!«
Alex lässt den Mann auf dem Boden liegen und steht auf.
»Meine Schuld«, sagt er. »Ich war am Funkgerät und hab die Personalien des Typen durchgegeben. Ich hör noch, wie die Frau sagt: ›Das darfst du dir nicht gefallen lassen, du bist doch ein Kerl, mach dich mal gerade‹, aber da war es schon zu spät. Der Typ hat sich draußen zwei Aschenbecher geschnappt …«
»Ruf die Kollegen«, unterbricht Lina ihn. Sie muss das jetzt einigermaßen korrekt zu Ende bringen, wenn sie nicht Gefahr laufen will, sich ab morgen nach einem anderen Beruf umsehen zu müssen.
»Darf ich meinen Ausweis herausholen?«, fragt der Chinese vorsichtig.
Lina bittet ihn vor die Tür auf die Straße, nimmt seine Personalien auf und wartet auf die Kollegen, die zehn Minuten später mit vier Streifenwagen heranrasen.
Weitere Kostenlose Bücher