Seelensplitter: Thriller (German Edition)
seinen in einem ratternden Einkaufswagen sitzenden Kumpel über den Bürgersteig. Aus der U-Bahn-Station streben Männer und Frauen in Businesskleidung in ihren Feierabend. Einige legen einen Zwischenstopp im Supermarkt ein. Stadtauswärts Stop-and-go.
Lina blickt auf die Uhr. In einer Stunde muss sie sich auf den Weg zur Wache machen. Nachtschicht. Mit Alex.
Seit zwei Wochen fahren sie zusammen. In den ersten Tagen war es nicht ganz leicht, seinen Redeschwall zu bremsen, aber inzwischen akzeptiert er, dass sie sich nicht über Politik, Familiengeschichten und schon gar nicht über die Kollegen oder ihr Privatleben unterhalten will.
Privatleben! Was soll das sein? Seitdem sie sich von Sven Emmert getrennt hat … Egal.
Beim Bäcker gegenüber bildet sich eine Schlange, die bis vor die Tür reicht. Angeblich wird da ohne Treibmittel und nach alten Rezepturen gebacken. Treibmittel!
Was treibt sie eigentlich an? Ein normales Leben führen. Nicht auffallen. Sicher sein. Und ein bisschen Anerkennung in dem Job, den sie sich ausgesucht hat.
Es klingelt an der Tür. Lina fährt zusammen und zerrt mit einem Ruck die Gardine zu.
Wer kann das sein? Eine Nachbarin mit einem Paket? Ein verspäteter Zusteller? Sie schaut auf die Straße, doch dort steht kein Wagen, der einem Paketdienst zuzuordnen wäre.
Alex?, denkt sie. Der wird doch wohl nicht auf die Idee kommen, sie zu Hause abzuholen? Wie auch immer, das heftige Zuziehen der Gardine ist möglicherweise auch im Hausflur zu hören gewesen. Tür öffnen. Menschen, die nicht auffallen wollen, öffnen die Tür, wenn es klingelt.
Lina erkennt sie sofort. Sie wirkt verstört, gehetzt, hält sich merkwürdig gebückt, und auf ihrem Gesicht breiten sich hektische Flecken aus.
»Carolin?«
»Du musst aufpassen!«
»Was ist passiert?«
Carolin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie sagt nichts. Ihr Gesicht ist geschwollen, die feinen Züge kaum noch zu erkennen.
Sie schwankt jetzt leicht und wischt sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Willst du nicht hereinkommen?«
Carolin sagt nichts, sie hebt nur den Arm, um sich am Türrahmen abzustützen. Ihre Fingernägel sind abgekaut, ihre Finger übersät mit kleinen, teils verschorften Schnitten.
Als würde Linas Frage sie erst jetzt erreichen, schüttelt sie den Kopf, und ihr Gesicht verzerrt sich zu einem Grinsen.
»Sieh dich vor, Lina Andersen. Die Monster sind erwacht.«
»Um Gottes willen … komm doch rein.«
Carolin macht eine Handbewegung zur Tür der Nachbarin und in den Flur.
»Sie schleichen ums Haus, Lina. Sie sind da. Ich höre sie tuscheln. Wispern. Sie wispern. Das ist irre, was?«
Sie nickt bekräftigend und zieht die Schultern hoch.
»Du glaubst mir nicht, oder? Aber jetzt kann mir niemand mehr vorwerfen, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee oder …«
»Du kriegst mich nicht in deine Wohnung«, sagt Carolin und kichert nervös. »Ganz bestimmt nicht.«
Dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und späht über Linas Schulter hinweg in die Wohnung hinein.
»Es ist niemand da«, beteuert Lina.
Auch ich könnte jetzt vor einer fremden Tür stehen und Geister beschwören, denkt Lina, und ich bin jeden Tag näher dran.
Möglich, dass die Monster wirklich da sind. Und möglich auch, dass sie selbst nur ein paar Monate braucht, um sie zu sehen. Zu erleben, wie die Monster ihr zuwinken.
»Du bist doch Polizistin«, sagt Carolin und fügt ein gemurmeltes »schöne Polizistin …« hinzu.
»Ich mag nicht mit dir im Flur …«
»Verstehe«, sagt Carolin.
»Also komm schon rein.«
Dabei will sie gar nicht, dass Carolin ihre Wohnung betritt. Sie muss sich vorbereiten. Ihre Uniform anziehen und sich das Gesicht aus Normalität überstülpen. Nicht auffallen. Nichts Besonderes sein.
Gott sei Dank, sie schüttelt den Kopf, denkt Lina.
Wortlos macht Carolin auf dem Absatz kehrt und stürzt grußlos die Stufen hinunter.
Im Dienst sind diese Dinge klar einzuordnen . Paranoia befällt die Alkoholiker und die Demenzkranken. Und die Einsamen. Bereits acht Mal waren sie gerufen worden, weil der Fernsehapparat den Anrufer beobachtete, weil Frauen, Ehemänner oder Vergewaltiger in Gebüschen lauerten, Töchter mit Messern hinter ihren Vätern her waren oder weil Hackgeräusche durch die Wand drangen.
»Seit Wochen geht das so. Fremde junge Männer gehen da rein und kommen nie wieder raus. Die machen Wurst.«
Lina mag die Demenzkranken, die sich auf ihrer Reise
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