Seelensplitter - Unsterblich wider Willen (German Edition)
dich verhaue, wenn du dich sehe“, brummte Jim. „Was fällt dir eigentlich ein, dich einfach wieder entführen zu lassen?“
„Ich glaube nicht, dass sie sich das ausgesucht hat“, wies Angelina ihn zurecht. „Und jetzt lass‘ sie doch erst einmal erklären, wo sie ist!“
„Genau: wo steckst du eigentlich?“
Toll. Und was nun? Sie hätte sich vorher überlegen sollen, was sie darauf antworten konnte. Jetzt stand sie da, mitten auf dem Parkplatz und schwieg.
„Mel? Bist du noch da?“
Melica seufzte. „Ich kann euch nicht sagen, wo ich bin. Wichtig ist nur, dass ihr euch keine Sorgen um mich macht. Niemand tut mir etwas an.“
„Soll das heißen, du bist noch immer bei diesen Mistkerlen?“, fragte Angelina verständnislos. „Du bist noch gar nicht freigelassen worden?“
„Sie sind keine Mistkerle! Und ja – ich bin noch immer hier.“
„Aber“, Jim brach verwirrt ab.
Angelina stöhnte auf. „Deshalb hast du dich also nicht bei uns gemeldet. Aber ich…ich verstehe das nicht. Deine Eltern haben gesagt, du wärst frei. Niemand sucht mehr nach dir! Alle sagen, du seist in Ordnung!“
„Ich bin ja auch in Ordnung“, erklärte Melica dumpf.
„Aber warum erzählen deine Eltern solche Lügen?“, fragte Jim leise. „Lina und ich…wir waren so erleichtert, dass du wieder frei bist, dass es dir gut geht! Und jetzt? Jetzt bist du in Wahrheit nie entkommen. Jetzt wirst du immer noch gefangen gehalten. Du steckst immer noch in Gefahr.“
„Jim! Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Ich bin nicht in Gefahr!“, zischte Melica. „Ich bin auch nie in Gefahr gewesen! Niemand hier will mir etwas antun! Denkt doch einmal nach! Wenn sie mir wirklich schaden wollten – warum lassen sie mich dann ihr Handy benutzen?“
Schweigen folgte auf ihre Worte. Melica konnte die beiden förmlich sehen, die Köpfe auf die Hände gestützt, die Stirne gerunzelt.
„Warum kommst du dann nicht einfach zurück?“, fragte Jim schließlich in die Stille.
Melica schüttelte leicht den Kopf. „Das kann ich euch nicht sagen. Ihr würdet es niemals verstehen.“
„Nicht verstehen?“, wiederholte Jim mit schmerzverzerrter Stimme. „Stimmt. Vielleicht werden wir das nicht. Aber wenn du unsere Freundin wärst, würdest du wenigstens versuchen, es uns zu erklären.“
„Ich bin eure Freundin!“, protestierte Melica verletzt.
„Ach wirklich? Dann kannst du das echt verdammt gut verstecken! Du benimmst dich nicht wie eine!“, knurrte Jim verärgert.
„Vielleicht ist es das Stockholm-Syndrom“, sagte Angelina nachdenklich. „Ich habe davon gehört. Opfer bauen automatisch Vertrauen zu ihren Entführern auf, wenn diese freundlich zu ihnen sind. In manchen Fällen meint der Entführte sogar, er würde den Täter lieben.“
Melica brach in verzweifeltes Gelächter aus. Vor ihren Augen blitzten die Bilder von ihrem Onkel, dem eingebildeten Jonathan und dem glatzköpfigen Tizian auf. Welchen der drei sollte sie bitte lieben?
„Das ist vollkommener Schwachsinn“, sagte sie entschieden. „Ich kann ja nachvollziehen, warum ihr mich nicht verstehen könnt, aber eines kann ich euch versprechen: Liebe ist nicht der Grund, warum ich bleibe.“
„Im Moment interessiert mich nur eines, Mel“, sagte Jim aufgebracht. „Planst du überhaupt, irgendwann wieder zurückzukommen?“
Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch Melica kämpfte sie verbissen zurück. Sie wusste nicht, was genau sie sich von diesem Gespräch erhofft hatte, aber – das hier war es mit ziemlicher Sicherheit nicht gewesen.
„Nein.“
Sie beendete das Gespräch, bevor auch nur einer der beiden die Möglichkeit hatte, zu antworten. Dann erlaubte sie sich zu weinen. So wie es aussah hatte die Verwandlung sie nicht nur von ihrer Familie getrennt. Sie hatte auch ihre Freunde verloren.
~*~
Viele Minuten später stand sie noch immer auf dem Parkplatz und behinderte Norweger beim Parken. Von drei Frauen war sie bereits angeschrien worden. Und von 2 Männern. Wenn sich Melica selbst belügen wollte, würde sie sagen, die Menschen wären gegangen, weil sie bemerkt hatten, dass Melica ihre Sprache nicht verstand. Die Wahrheit sah aber ganz anders aus. Sie alle waren geflüchtet, als sie ihr ins Gesicht gesehen hatten. Melica wollte gar nicht darüber nachdenken, wie sie aussehen musste. Ihr Gesicht war vom Weinen wahrscheinlich ganz fleckig geworden und ihre Augen…es war kein Wunder, dass alle Norweger die Flucht ergriffen hatten.
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