Seelensturm
wirklich ausgesprochen gut. Liebevoll hatte Agnes uns im Wohnzimmer auf das Sofa postiert und eilig mit ein paar Decken zugedeckt. Sie liebte es, uns zu bemuttern. Das ließ sie sich nicht nehmen, auch nicht von Alegra.
Onkel Finley verschwand sofort in seinem Arbeitszimmer und nahm alle Gorillas mit sich. Wahrscheinlich hielt er eine große Lagebesprechung.
Amy schien, trotz der gekonnten verbalen Attacke gegen Alegra, geschafft zu sein. Der Unfall musste ihr mehr zugesetzt haben, als ich angenommen hatte. Es dauerte nicht lange und sie schlief tatsächlich ein. In Gedanken versunken starrte ich meine Schwester an. Sie war sich nach wie vor nicht bewusst, was wirklich vor ein paar Stunden geschehen war. Für sie war es nur ein Verrückter, der wahrscheinlich zu tief ins Glas geschaut hatte. Fürsorglich strich Agnes ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und deckte sie behutsam zu.
Ich hätte jetzt nie und nimmer einschlafen können. Nach diesen Ereignissen war ich noch völlig durcheinander. Agnes nahm meine Hand und setzte sich zu mir. Sie schien genau zu wissen, dass ich mir Sorgen machte. Sie kannte mich gut.
»Jade, … willst du darüber reden?«
Ich schüttelte den Kopf. Darüber konnte ich mit ihr nicht reden. Was sollte ich ihr denn erzählen? Dass eine Krähe ständig in meiner Nähe war und uns beobachtete? Dass diese Krähe zu einem Mann gehörte, der mich für Amy gehalten hatte? Dass Onkel Finley glaubte, dass dieser versucht hatte, Amy zu ermorden? Ich verstand das alles ja selbst nicht. Wie sollte ich Agnes das alles erklären?
»Ich sehe dir an, dass du noch ganz geschockt bist. Weißt du, manchmal erlebt man Dinge, die schwer zu verstehen sind«, begann sie, »Aber hast du eine Ahnung, was du bist?« Agnes sah mich lächelnd an.
»Du bist eine Heldin, Jade. Du hast das Leben deiner Schwester gerettet.«
»Das ...«, stammelte ich.
»Dank dir ist euch beiden nicht mehr passiert als das gebrochene Handgelenk und ein paar blaue Flecken. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Schatz.« Ihre Aufmunterung war lieb gemeint. Aber das war ja nicht das Problem. Außerdem hätte Amy dasselbe für mich getan, da war ich mir sicher.
»Ich habe einfach nur reagiert, mehr nicht!«
Sie riss ihre Augen auf. »Nur reagiert? Mir scheint, du bist dir nicht bewusst, was du wirklich für Amy getan hast! Ich finde es einfach unglaublich, wie du das geschafft hast. Du hast wirklich eine ausgesprochen gute Reaktion. ... Jetzt mach nicht so ein Gesicht, du kannst stolz auf dich sein. … Oder geht es dir nicht gut? Soll ich deinem Onkel sagen, dass er einen Arzt rufen muss?«
Sie wollte gerade aufstehen, doch ich zog sie an ihrem Ärmel zurück auf das Sofa.
»Nein, nein! Es geht mir gut«, unterbrach ich sie schnell, »vielleicht brauche ich wirklich etwas Ruhe.«
»Sicher?«, fragte sie und zog ihre Stirn hoch.
Ich versuchte zu lächeln, doch es fiel mir schwer.
»Mach dir keine Sorgen, Agnes. Morgen bin ich wieder fit«, versprach ich ihr. Sie sah mich eindringlich an und spürte genau, dass es etwas gab, was mich beschäftigte.
»Denk nicht soviel nach, Kleines. Dieser Mann war bestimmt so betrunken, dass er nicht wusste, was er tat. Natürlich ist das keine Entschuldigung, aber es hätte jeden treffen können. Das hat die Polizei auch gesagt. Sie werden den Täter finden und er wird bestraft werden«, sagte sie, nahm die Decke und zog sie behutsam bis an mein Kinn. Dann küsste sie mich auf die Stirn.
»Versuch zu schlafen, Kind. Wenn etwas ist, ich bin im Garten!«, sagte sie und verließ leise das Wohnzimmer.
Damit war ich mit meinen Gedanken allein, die mich nicht schlafen ließen. Die Fragen, die sich in meinem Kopf immer wieder abspielten, waren so aufwühlend. Die Fakten waren klar. Jemand hatte versucht, Amy zu töten. Vielleicht sogar uns beide. Dann diese Begegnung mit diesem Mann aus dem Wald, dessen Blick mir nach wie vor eine Gänsehaut verursachte. Was hatte er mit dem Ganzen zu tun? Und da gab es noch etwas, was mich sehr beunruhigte. Wovon niemand etwas bemerkt hatte. Diese merkwürdigen Veränderungen meiner Haut. Ich hatte es mit meinen eigenen Augen gesehen. Es war keine Einbildung. Außerdem spürte ich diese seltsame Kraft. Zum ersten Mal wurde es mir richtig bewusst, als ich Amy packte, während sich das Motorrad uns näherte. Es waren einfach zu viele Dinge geschehen. Der Gedanke, dass Onkel Finley etwas Kriminelles getan hatte, ließ mich nicht mehr los. Ich hatte Angst vor der
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