Seelensturm
Wahrheit. Ich kannte ihn als liebevollen und großzügigen Onkel. Trotzdem gab es Dinge, die Amy und ich nie verstanden hatten. Warum war er immer so darauf bedacht gewesen, uns so zu schützen? Das alles ergab keinen Sinn. Welche Gründe hatte unser Onkel, uns so vor der Welt dort draußen abzuschirmen?
Aus dem Arbeitszimmer hörte ich aufgebrachte Männerstimmen, doch ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Schließlich hielt ich es auf dem Sofa nicht mehr länger aus. Ich musste etwas tun, …irgendetwas. Ich streifte die Decke von mir und schlich leise in die Eingangshalle. Diesmal war die Tür des Arbeitszimmers geschlossen. Ich sah mich um. Agnes war nirgends zu sehen. Sie hätte mir die Leviten gelesen, wenn sie mich beim Lauschen erwischt hätte. Laute Stimmen drangen aus dem Zimmer. Onkel Finley war in seinem Element, er gab mal wieder Anweisungen. Ich hielt mein Ohr an die glatte, kalte Oberfläche der Tür.
»Ich brauche Pässe und eine Maschine. Wir fliegen noch heute nach Madrid. Sie werden uns begleiten, Chang!« Onkel Finley schien keinen Widerspruch zu dulden.
»Mr. Lewis, glauben Sie mir. Eine Flucht wird Ihnen nichts nützen. Die Taluris überwachen jetzt alle Flughäfen, Bahnhöfe und sämtliche Ausgänge der Stadt. Wenn Sie jetzt fliehen, sind Sie viel leichter angreifbar und womöglich führen Sie diese Teufel noch in unser Versteck. Die Taluris werden Sie finden, ganz egal, wo Sie sich auf der Welt verstecken. Es wäre besser, Sie würden Ruhe bewahren und nichts überstürzen.«
»Und das Mädchen töten lassen?«, schrie er plötzlich. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Amy einfach so im Stich lasse. Ich habe es damals versprochen. Wir müssen verschwinden, je schneller, desto besser«, erwiderte mein Onkel wütend.
»Wenn ich etwas dazu sagen darf, Finley …,« hörte ich die Stimme des Fremden.
»Mr. Chang ist der Einzige, der genug Kampferfahrung hat, um das Mädchen zu verteidigen. Überstürze deine Entscheidung nicht. Vielleicht solltest du ihm vertrauen?«
»Vertrauen? Hier geht es um das Leben meiner Nichte, die heute fast ermordet wurde. Heute ist sie davon gekommen, aber das nächste Mal? Ich kann dieses Risiko nicht eingehen, Vico.«
Da mischte sich Mr. Chang wieder in das Gespräch ein.
»Überlegen Sie mal, warum Amy noch am Leben ist und wem sie es zu verdanken hat. ... Es war Jade. Soweit ich informiert bin, hatte sie das Schulgelände erst viel später verlassen als ihre Schwester. Eine Schülerin sagte mir, dass sie zum Roberts rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her. Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass das Mädchen vielleicht mehr weiß, als wir alle annehmen?«
»Papperlapapp, woher soll Jade etwas wissen? Sie ist zwar nicht dumm, trotzdem hat sie keine Ahnung, was hier vor sich geht, geschweige denn, was Amy für ein Schicksal bevorsteht.«
Langsam hatte ich die Faxen dicke. Ich konnte mich nicht ewig hinter der Tür verstecken und darauf warten, dass ich mehr Details erfahren würde. Hin- und hergerissen überlegte ich, ob ich einfach ins Büro hineinspazieren sollte oder nicht.
Onkel Finley plante, mit uns die Stadt zu verlassen, um uns zu schützen, vor was auch immer. Aber das würde bedeuten, nie mehr wieder zurückzukehren. Unsere Heimat, unser Zuhause, unsere Freunde. Das konnte er doch nicht ernst meinen. Was war hier nur los?
Ich nahm allen Mut zusammen, drückte die Klinke der Tür hinunter und betrat das Arbeitszimmer. Sofort war es still im Raum. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Onkel Finley, der mal wieder unruhig durch das Zimmer getigert war, blieb abrupt stehen und sah mich an.
Mein Gott! Er sah wirklich nicht gut aus. Erst jetzt bemerkte ich, wie viel Sorge in seinem Gesicht lag.
»Jade, … alles in Ordnung?« Er versuchte zu lächeln, was ihm allerdings kläglich misslang. Mit meinem Erscheinen hatte er wohl nicht gerechnet. Nervös spielte ich mit meinen Pulloverärmeln.
»Keine Sorge, alles in Ordnung. Amy schläft«, beruhigte ich ihn.
Ein mir unbekannter Mann saß auf dem Ledersofa, während Terry, Clive und Frank links von Onkel Finleys Schreibtisch standen.
»Was kann ich für dich tun? Geht es dir auch gut? Oder hast du etwas auf dem Herzen?«, fragte er.
Jetzt oder nie, dachte ich. Ich nahm noch mehr Mut zusammen. »Onkel Finley«, stammelte ich, »Ich will die Wahrheit wissen. Ich weiß, dass das heute Nachmittag ein Mordversuch war und ich weiß auch, dass das alles mit Amy zu tun hat.
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