Seelensturm
Taluris hatten versucht, Amy und mich zu töten. Onkel Finley hatte mich in das Geheimnis eingeweiht und wollte gestern noch Bayville mit uns für immer verlassen. Völlig durcheinander hatte ich mich in dieser Nacht vom Grundstück geschlichen und ein Taluri, der mich für meine Schwester hielt, rettete mir das Leben. Das alles schien so unwirklich. Doch den Beweis, dass das alles stattgefunden hatte, konnte ich an meiner schmutzigen, zerrissenen Hosen sehen.
Ich wusch mir drei Mal die Haare und seifte meinen Körper gründlich ein. Alle meine Wunden waren tatsächlich verschwunden. Nur die winzige Rötung, die immer schwächer wurde, war noch zu erkennen. Meine Hände und mein Dekolleté zeigten keine Spuren mehr von der merkwürdigen Hitze, die jedes Mal in mir brannte, wenn ich auf einen Taluri stieß. Das war die einzige Erklärung, die für mich logisch klang. Falls man von logischem Denken in diesem Fall ausgehen konnte. Diese ganze Sache hatte meine Welt völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Vor zwei Tagen war mir nicht klar gewesen, dass es etwas Übersinnliches oder so Realitätsfremdes gab. Wobei mir die sichtbaren Seelenfarben meiner Schwester und mir schon ein Hinweis hätten sein müssen. Aber wir waren einfach damit aufgewachsen, dass Amy und ich eine besondere Verbindung hatten. Für uns war es normal. Man hörte viele Geschichten über Zwillinge und so war es nie etwas Unnatürliches für uns.
Amy eine Heilerin, eine Illustris! Außer Zweifel, meine Schwester war etwas Besonderes, aber was genau war ihre Aufgabe? Am Leben bleiben? Nun, das war nicht so einfach, wenn man gegen zwölf Männer bestehen sollte, die ihr ganzes Leben einzig und allein dafür ausgebildet wurden, sie zu töten.
Wieder tauchte das Bild der beiden Männer vor mir auf. Der erste Taluri hatte schon Kontakt mit Amy gehabt und ich fragte mich, warum er mit ihr reden konnte, während er mich wiederum töten wollte. Das war dieser Matteo. Schon damals im Club war mir sein Blick durch und durch gegangen.
Meine körperlichen Veränderungen jagten mir Angst ein. Trotzdem erkannte ich, dass dieser Vorgang mehr ein Alarmsystem war. Diese Hautveränderungen, und die sichtbaren, sich schlängelnden Ornamente, deuteten immer darauf hin, dass ein Taluri in der Nähe war. Außerdem verstand ich es immer besser, auf meinen Körper zu hören. Ob Amy auch so ein inneres Alarmsystem hatte? Wie hatte sie so nahe bei Matteo stehen können, ohne dass sie dieses Brennen spürte?
Ich hörte Geräusche in der Eingangshalle. Onkel Finleys Stimme war laut und deutlich zu hören. Er telefonierte und schien nicht aller bester Laune zu sein. Ich folgte ihm in die Küche. Agnes schenkte ihm gerade eine Tasse Kaffee nach, als er aufsah und mich neugierig musterte. Sofort beendete er sein Gespräch und steckte das Handy in seine Hosentasche.
»Guten Morgen, Kleines. Du bist aber früh wach!«
»Ich konnte nicht länger schlafen«, antwortete ich ihm verlegen, setzte mich an den Tisch und überlegte, ob er etwas von meinem nächtlichen Ausflug bemerkt hatte. Nervös sah ich kurz auf die Küchenuhr. Erst halb sieben. Ich fühlte mich frisch und ausgeruht, was ich selbst nicht verstand - nach dieser Nacht. Agnes musterte mich. Es war schwer, etwas vor ihr geheim zu halten. Sie konnte schon immer in unseren Gesichtern lesen, doch diesmal schien auch sie nichts zu bemerken.
»Hast du wenigstens gut geschlafen, meine Liebe?«, fragte sie und reichte mir eine Müslischale.
»Nein, ich konnte lange nicht einschlafen.«
Achselzuckend setzte ich mich zu Onkel Finley an die Theke und wagte es nicht, ihn anzusehen. Er las, wie jeden Morgen, in seiner Zeitung. Dennoch wusste ich, dass er mich aus seinen Augenwinkeln heraus beobachtete. Ich schüttete Müsli in die Schale und goss Milch dazu. Agnes setzte sich zu uns und schenkte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein.
»Liegt wahrscheinlich am Wetter. Es soll ja in den nächsten Tagen anfangen zu regnen«, meinte sie und sah dabei aus dem Fenster.
»Wir werden sehen, die Wettervorhersage hat sich schon oft geirrt«, gab Onkel Finley von sich, ohne die Zeitung abzulegen. »Ach, Jade, wenn du fertig bist mit dem Frühstück, dann komm bitte in mein Büro«, fügte er noch hinzu, faltete die Zeitung zusammen und schlenderte mit seiner Tasse Kaffee aus der Küche. Wollte er mit mir über das Geheimnis sprechen, oder wusste er etwas von gestern Nacht? Bei Onkel Finley konnte man das nie genau sagen. Das Beste
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