Seelensunde
Fluss. Wenn wir hier weg wollen, ist er unsere einzige Chance.“
„Elender Mist“, schimpfte er leise und blickte stirnrunzelnd auf das rote Wasser.
Sie setzte sich auf, schlang die Arme um die Knie und ließ ihm Zeit zu überlegen, während sie selbst mit dem Gedanken spielte, hier zu bleiben, sich mit Alastor im Nirgendwo die Zeit zu vertreiben, die hier gar nicht existierte, bis es mit ihr zu Ende gehen würde.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, wollte er wissen.
„Ich dachte gerade daran, wie schön es eben war. Wahrscheinlich ist das dumm und sentimental, aber für einen Moment war mir gar nicht danach, von hier wegzugehen.“
Alastor sah sich um. „Ich möchte um jeden Preis hier weg. Aber natürlich nicht ohne dich, Liebste.“
Das war ein Versprechen. „Und wenn das die einzige Möglichkeit wäre, Butchers Schwarze Seele zu bekommen?“
Er blickte sie forschend an. Das Blau seiner Augen erinnerte in diesem Augenblick wieder an Gletschereis. Aber er sagte nichts und ließ Naphré darüber im Unklaren, ob er bereit war, sie gegen Butchers Seele einzutauschen. Würde er ihretwegen auf Butchers Wissen um den Mord an seinem Bruder verzichten? Sie wollte nicht nachfragen. Vielleicht wollte sie es gar nicht so genau wissen.
Plötzlich machte Alastor ein Gesicht, als würde er angespannt lauschen. Er hob den Kopf, seine Nasenflügel bebten.
„Was ist?“, fragte Naphré beunruhigt.
Angespannt und konzentriert verharrte er eine Weile regungslos und schweigend. Dann stieß er einen enttäuschten Seufzer aus und schüttelte den Kopf. „Merkwürdig. Mir war, als hätte ich ein Signal von Lokan erhalten. Aber es ist nichts.“
Er bückte sich nach Naphrés Sachen, die ringsum verstreut waren, und sammelte sie zusammen.
Erst jetzt war an den scharfen Linien um seinen Mund und seine Augen richtig zu erkennen, wie abgekämpft und erschöpft er war. Naphré hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil sie dazu beigetragen hatte, ihm die letzten Kräfte zu rauben. Dabei fühlte sie sich den Umständen entsprechend noch verhältnismäßig gut. Hunger, Durst und Erschöpfung waren wohl noch zu spüren, aber für den Moment waren sie in den Hintergrund getreten.
„Hast du noch Zucker?“, fragte sie.
Alastor hob sein Jackett auf und durchstöberte die Taschen. Einen Bonbon aus Naphrés Schale fand er noch. Er hielt ihn ihr hin.
„Nein, nicht für mich“, wehrte sie ab, „für dich.“
Wortlos hielt er ihr den Bonbon weiter hin. Naphré erhob sich vom Boden und nahm ihn schließlich. Ihre Brüste wipptenbei dieser Bewegung leicht, und Alastor genoss auch jetzt diesen Anblick.
Sie lachte und meinte auf Alastors fragenden Blick hin: „Unglaublich. Wir sitzen hier in der Tinte, wissen kaum, wie wir überleben sollen, und du denkst an nichts anderes als daran, über mich herzufallen und …“
Sie verstummte, als er dicht an sie herantrat und ihr sacht in den Hals biss. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: „Ich wünschte mir nichts mehr, als über dich herzufallen. Meinetwegen zu jeder vollen Stunde. Aber leider müssen wir uns um etwas anderes kümmern. Ich komme später darauf zurück. Ich verspreche es dir.“
Er nahm ihr den Bonbon, den sie in der Hand hielt, ab, wickelte ihn aus und schob ihn ihr in den Mund. Naphré wollte protestieren, überlegte es sich aber und öffnete brav den Mund. Warum streiten, wenn man sein Ziel auch anders erreichen kann, dachte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Als er den Kuss vertiefte, schob sie ihm den Bonbon in den Mund.
Alastor gab einen unwilligen Laut von sich. „Das zahle ich dir noch heim.“
„Alles leere Versprechungen“, meinte sie.
Die beinahe heitere Gelassenheit, über die sie sich selbst wunderte, war vollkommen unpassend. Denn keiner von ihnen wusste, ob sie hier jemals wieder herauskommen und noch einmal das Licht der Sonne erblicken würden.
Als sie das erwähnte, entgegnete er: „Wir werden einen Ausweg finden.“ Dann stutzte er und fragte. „Warum siehst du mich so an?“
„Weil du wir gesagt hast und nicht ich . Wir werden einen Ausweg finden.“
Er lächelte spöttisch. „Bilde dir nur nicht zu viel darauf ein.“ Er reichte ihr die Sachen, die er aufgesammelt hatte. „Komm jetzt.“
Sie begannen beide, sich anzuziehen. Naphré staunte darüber,dass die Wunde an seinem Arm komplett verheilt war. Nicht einmal eine kleine Narbe war geblieben. Mitten beim Ankleiden ergab sich jedoch für sie ein Hindernis.
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