Seelensunde
flache Schüssel. Auch diese Zeichen kannte er. Es stand für den Brotlaib. Er lächelte kurz.
Was er mit den Fingerspitzen entschlüsselte, waren eindeutig Hieroglyphen. Er kannte jedes einzelne dieser Schriftzeichen. Dass er etwas gefunden hatte, das ihm vertraut war, erfüllte ihn mit Erleichterung, ja, beinahe mit Heiterkeit.
Ein blasser purpurroter Schein wurde weit hinten sichtbar und breitete sich rasch aus, sodass er die nähere und weitere Umgebung ausreichend beleuchtete, damit Lokan jetzt alles erkennen konnte. Er stellte fest, dass er sich auf einer Treppe befand. Die engen Stufen, die sich aufwärts wie abwärts anscheinend endlos fortsetzten, waren von engen Mauern umgeben. Der Durchgang war so schmal, dass er es nicht erlaubte, nach beiden Seiten die Arme auszustrecken. Wohin man schaute, die Wände waren voller Hieroglyphen.
Lokan machte sich wieder daran, die Hieroglyphen zu entziffern, und hielt bald verdutzt inne. Obwohl ihm die alte ägyptische Schrift vollkommen geläufig war und er keine Mühe hatte, die einzelnen bildhaften Zeichen in Laute umzusetzen, ergaben die Inschriften insgesamt keinen Sinn. Was hier zu lesen stand, glich einem wild zusammengewürfelten Buchstabensalat ohne den geringsten erkennbaren Zusammenhang.
In die Enttäuschung darüber mischte sich plötzlich ein ungutes Gefühl. Etwas drängte ihn. Er musste etwas unternehmen. Lokan spürte, dass Gefahr drohte. Nicht ihm. Jemandem, den er liebte … seinem Bruder. Und der musste ganz hier in der Nähe sein, so nahe, dass Lokan das Gefühl hatte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um ihn zu berühren.
Sein Bruder. Was bedeutete dieses Wort? Lokan strengte seinen Geist an, konnte aber dessen Sinn nicht erfassen. Dann fiel es ihm ein. Alastor. Es ging um Alastor, der in Gefahr war. Und er war ganz nahe.
Lokan drehte sich um die eigene Achse und suchte nach einem Weg, aus dem Treppenlabyrinth zu entkommen. Er musste Alastor finden. Weit konnte er nicht sein.
„Alastor!“ Aufgeschreckt durch den Klang der eigenen Stimme, verstummte Lokan. Es war ein entsetzlicher Klang, schrill, fremd, wie eingerostet nach der endlos langen Zeit des Schweigens.
Seine Unruhe wuchs. Die Gefahr, die er spürte, wurde immer bedrohlicher, und immer dringender wurde es, Alastor zu warnen. Er sollte nicht hier sein. Das war nicht gut so dicht am Abgrund. Ein falscher Schritt, und wie er, Lokan, würde Alastor abstürzen und von einem Höllenschlund verschlungen werden, in dem er sich für immer verlieren würde.
Aber da war noch etwas. Lokan war nicht von allein hierher geraten. Jemand hatte dafür gesorgt – aber wer? Es war so wichtig, sich daran erinnern, um Alastor zu warnen. Lokan überlegte, wohin er sich wenden sollte. Die Treppe hinauf, die in schwindelnde Höhen bis zu den Sternen zu führen schien? Oder den schnurgeraden Weg hinunter in die Finsternis?
Während er noch dastand und überlegte, hatte er schon wieder vergessen, wo er war, warum er hier war und wer er war. Erneut umfingen ihn Dunkelheit und Stille. Alles hatte sich in Nichts aufgelöst. Alles bis auf das nagende Gefühl, dass es da noch etwas gab, das wichtig war, dass er jemanden warnen musste. Wenn er nur noch wüsste, wen und wovor.
Naphré streckte und reckte sich. Sie genoss, wie Alastor sie streichelte. Sie fühlte sich behaglich wie eine Katze, jedenfalls soweit es das Wohlbehagen betraf, das die Befriedigung ihr verschaffte. Abgesehen davon war sie eine ziemlich geschundene, hungrige, durstige und erschöpfte Katze. Dennoch wollte sie noch ein wenig Alastors Zärtlichkeit genießen und die Hochgefühle ausklingen lassen, die ihr der unglaubliche Sex mit ihm beschert hatte.
Sie hatte die Augen kaum geschlossen, als Alastor aufstand und mahnte: „Komm hoch. Wir müssen uns auf den Weg machen.“
Naphré sah ihn müde durch die halb geschlossenen Lider an. Allein ihn wie einen griechischen Gott nackt und schön vor sich zu sehen, brachte ihre Lebensgeister wieder in Bewegung. „Auf den Weg? Wohin?“
Alastor blickte nach links und rechts und erklärte nach kurzer Überlegung: „Wir gehen stromabwärts.“
„Stromabwärts ist eigentlich eine gute Idee. Bloß das Gehen wird uns nicht weit bringen“, entgegnete Naphré. „Als ich auf der Suche nach dir gewesen bin, bin ich auch gegangen. Ich bin gegangen und gegangen, um am Ende festzustellen, dass ich mich noch genau dort befand, wo ich losgegangen war. Das Einzige, was einen hier fortbewegen kann, ist der
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