Seelentod
fuhr sie fort. «Was sagt uns das Willows?»
«Meiner Ansicht nach muss Lister vor halb zehn umgebracht worden sein», sagte Charlie.
«Der Gerichtsmediziner will sich da nicht so genau festlegen.»
«Mir doch egal», sagte er. «Ab halb zehn gibt’s ermäßigte Tarife, und da kommen dann die ganzen Tattergreise und schnuckeligen jungen Mütter. Die stehen mindestens ebenso lang am Beckenrand rum und schnattern, wie sie schwimmen. Die meisten von den älteren Herrschaften sind ohne ihre Brillen im Pool blind wie die Maulwürfe, weshalb es ja auch so lang gedauert hat, bis jemand gemerkt hat, dass die junge Frau tot ist, aber das dürfte der Mörder nicht gewusst haben. Vor halb zehn ist die arbeitende Bevölkerung da, auf ein paar schnelle Bahnen vor dem Büro. Joe zufolge hat da auch noch kein Bademeister Dienst. Ich habe mit den Angestellten geredet. Von denen, die in der Früh zum Schwimmen kommen, geht kaum einer ins Dampfbad. Die haben es eilig.»
«Das klingt plausibel», gab Vera zu. Dann und wann musste man Charlie ein kleines Lob hinwerfen, um ihn bei der Stange zu halten.
«Es hat ein paar Bagatelldiebstähle gegeben.» Das war Ashworth, der die Besprechung zu einem Ende bringen wollte. Vera sah, wie er einen Blick auf die Uhr an der Wand warf. Seine Madame machte ihm das Leben immer schwer, wenn er nicht rechtzeitig zu Hause war, um die Kinder vor dem Zubettgehen noch zu sehen. «Das könnte ein Motiv sein, falls Lister einen von ihnen beim Stehlen erwischt hat.»
«Wer ist der Hauptverdächtige?»
«Die Angestellten geben Lisa die Schuld, der Kleinen aus dem Westend, aber der stellvertretende Geschäftsführer meint, dass sie bloß ein Sündenbock ist. Ich würde auf Danny wetten, den Studenten. Das mit den Diebstählen ist erst losgegangen, als er den Aushilfsjob bekommen hat, und er ist ein arroganter kleiner Dreckskerl. Der Typ, der denkt, dass er mit so was davonkommen wird. Sein Chef meint, dass er seine zukünftige Karriere nicht wegen ein paar wertlosen Sachen aufs Spiel setzen würde, aber ich bin mir da nicht so sicher. Er lebt gern gefährlich.»
Vera hatte auf einmal Durst auf Alkohol. Ein Bier, dachte sie. In der Speisekammer zu Hause standen noch ein paar Büchsen
Speckled Hen
. Wenn er sich gut benahm, würde sie Joe Ashworth vielleicht sogar eine abgeben. Ihr Haus lag auf seinem Heimweg. Fast jedenfalls.
«Soweit ich das sehe, müssen wir auf drei verschiedenen Gebieten ermitteln», sagte sie abrupt. «Erstens, Jenny Listers Privatleben. Wir müssen ihren geheimnisvollen Geliebten finden. Warum wollte sie ihn um jeden Preis geheim halten? Wenn er verheiratet ist, müssen wir uns vielleicht eine eifersüchtige Ehefrau vornehmen. Dann ist da der Fall Elias Jones. Ist er von Bedeutung für die jetzigen Ermittlungen? Wenn ja, inwiefern? Und schließlich die Diebstähle im Willows. Sieht nicht nach einem überragenden Motiv aus, aber die Leute haben schon für weniger gemordet.»
Das Klischee ließ sie zusammenzucken, aber ihr Team war mit diesem Resümee offenbar zufrieden. Sie wären mit allem zufrieden gewesen. Das ganze Gerede langweilte sie auf einmal, und sie wollten bloß noch raus aus dem Zimmer.
Ashworth ließ sich leichter dazu überreden, noch auf ein Bier mit zu ihr zu kommen, als sie erwartet hätte. Vielleicht kam er ja lieber erst nach Hause, wenn die Tumulte im Bad und beim Zubettgehen vorüber waren, wenn das Haus still war und er seine Frau für sich hatte. Joe hielt sich gern für den perfekten Familienvater, und sie gönnte den Menschen ihre kleinen Selbsttäuschungen ja auch.
Der Abend war ruhig, es dämmerte gerade, als sie an Veras Haus eintrafen. Sie stieg aus dem Wagen und roch den Ginster und das feuchte Laub und die Kühe. Wenn Hector ihr auch sonst nicht viel mitgegeben hatte, dieses Haus hier hatte er ihr gegeben, und dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Mitten in dem ganzen Gerede über Eltern und Kindererziehung hatte sie vorhin plötzlich an ihn gedacht und auf einmal begriffen, dass sie in ihm einen bequemen Sündenbock gefunden hatte. Sie gab ihm die Schuld an allem, was in ihrem Leben schieflief, und das war womöglich nicht ganz gerecht. Hector mochte an den meisten Dingen schuld sein, aber gewiss nicht an allen.
Sie zündete die Holzscheite an, die schon im Kamin bereitlagen, nicht, weil es besonders kalt gewesen wäre, sondern weil eine heillose Unordnung bei ihr herrschte und sie so zumindest etwas hatten, was sie betrachten konnten.
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