Seelentod
Halluzinationen?» Das kam bestimmt vom Fieber, dachte Vera. Aber es konnten auch Schuldgefühle sein oder Angst. Nichts bescherte einem zuverlässiger Albträume als Schuldgefühle.
«Ach, Monster und böse Geister. Das Übliche.» Und die Schwester hatte gelacht. Das war für sie nichts Neues.
Jetzt schien Mattie zu dösen. Vera sprach sie mit Namen an, und Mattie schlug die Augen auf, blinzelte verwirrt.
«Wo ist Sal?»
«Ist das die Gefängniswärterin?»
Mattie nickte.
«Die ist eine rauchen gegangen. Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden. Ich heiße Vera Stanhope.»
«Sind Sie Ärztin?» Sie hatte auch die Stimme eines kleinen Mädchens. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie alt genug war, um Mutter eines Schulkindes zu sein.
Vera lachte. «Aber nein, Herzchen. Ich bin von der Polente.»
Mattie schloss die Augen wieder, wie um Vera von sich fernzuhalten und lieber weiter von Monstern und bösen Geistern zu träumen.
«Ich bin nicht hier, um Ihnen Ärger zu machen», sagte Vera. «Ich brauche nur ein paar Informationen, würde gern mit Ihnen reden. Ich glaube, Sie können mir helfen.»
Mattie sah sie an. «Ich habe der Polizei schon damals alles gesagt.»
«Das weiß ich doch.» Vera schwieg kurz. «Haben Sie in letzter Zeit mal Nachrichten gesehen?» An der Wand war ein Fernseher befestigt, aber der lief nur mit Münzen; das Gesundheitssystem versuchte an Geld zu kommen, wo es nur konnte.
Mattie folgte ihrem Blick. «Sal hat ihn für mich angemacht. Und sie hat auch bezahlt. Aber Nachrichten haben wir nicht geschaut.»
Natürlich nicht, dachte Vera. Mattie sah bestimmt gern die Zeichentrickfilme, und Sal
Britain’s Next Top Model
und
Wife Swap
.
«Jenny Lister ist tot», sagte Vera. «Erinnern Sie sich an Jenny?»
Mattie nickte. Ihre Augen sahen riesig aus. «Sie hat mich im Gefängnis besucht.» Eine Träne lief ihr das Gesicht hinunter. «Was ist denn passiert?»
«Sie ist ermordet worden.»
«Wieso sind Sie hier?» Jetzt war Mattie hellwach, sie versuchte sogar, sich ein wenig aufzusetzen. «Das hat nichts mit mir zu tun.»
«Sie haben sie gekannt», sagte Vera. «Ich rede mit den Leuten, die sie gekannt haben. Mehr nicht.»
«Mir können Sie nicht die Schuld daran geben.» Die Worte kamen jetzt hysterisch heraus und so laut, dass Vera sich Sorgen machte, das Personal im Schwesternzimmer könnte auf sie aufmerksam werden. «Ich war eingesperrt. Ich hätte gar nicht rausgekonnt, selbst wenn ich gewollt hätte.» Und Vera erkannte, dass Mattie das wahrscheinlich sowieso nicht wollte. Im Gefängnis fühlte sie sich sicher, war vielleicht sogar von den anderen abgetrennt, in einem Flügel für psychisch labile Straftäterinnen, wo sie sich an freundliche Wärterinnen wie Sal und den täglichen Trott aus Unterricht und Mahlzeiten halten konnte. Abgesehen davon wusste Mattie ja nicht einmal, wann Jenny ums Leben gekommen war. Denn als es passierte, war sie im Krankenhaus gewesen und nicht im Gefängnis.
«Niemand gibt Ihnen die Schuld», sagte Vera. «Ich brauche Ihre Hilfe. Deswegen bin ich hier.»
Mattie sah verwirrt aus. Der Gedanke, jemand könnte ihre Hilfe brauchen, war ihr offenbar fremd. Sie war doch immer diejenige gewesen, die Hilfe brauchte.
«Ich habe Jenny gemocht. Ich wünschte, sie wäre noch am Leben.» Sie hielt kurz inne, dann stieß sie einen Klagelaut aus, wie in einem Ausbruch von Selbstmitleid. «Sie wird mir fehlen. Wer kommt mich denn jetzt noch besuchen?»
«Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?»
«Letzten Donnerstag.» Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
«Sind Sie sicher?» Vera hätte einen nicht näher bestimmten Tag in der Vergangenheit erwartet.
«Sie ist immer am Donnerstag gekommen.»
«Jede Woche?» Vera war überrascht. Für eine vielbeschäftigte Frau ging das mit Sicherheit weit über die normale Pflichterfüllung hinaus.
«Immer donnerstags. Am Nachmittag.»
«Und worüber haben Sie letzten Donnerstagnachmittag gesprochen?» Eine tolle Unterhaltung kann das kaum gewesen sein, dachte Vera. Was auch immer Jenny Woche für Woche in das Gefängnis von Durham gezogen hatte, das geistreiche Gespräch war es sicher nicht gewesen. Waren es Schuldgefühle? Hatte die Sozialarbeiterin sich die Schuld am Tod des Jungen und an Matties Verurteilung gegeben?
«Über das Gleiche wie immer», sagte Mattie.
«Und das war?» Vera merkte, wie ihr Mitgefühl an Grenzen stieß. Am liebsten hätte sie die junge Frau geschüttelt, ihr gesagt,
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