Seelentod
Vera schrieb den Namen des Kindes auf die Tafel. «Was wissen wir inzwischen darüber? Joe, Sie haben doch mit dieser Sozialarbeiterin gesprochen, die von den Zeitungen so angeprangert worden ist. Connie Masters. Glauben wir, dass sie ihre Chefin umgebracht hat?»
«Sie behauptet, nicht mal gewusst zu haben, dass Lister da im Dorf wohnt.»
«Und, glauben wir ihr?» Na los, Joe. Sag, was du denkst.
«Ja», sagte er, und sie hätte am liebsten gejubelt. Joe Ashworth bemühte sich immer so sehr um Neutralität, dass er ihr manchmal fast wie die Schweiz vorkam. «Das kann man erst mal nicht glauben – ein so kleiner Ort, und da sollen sie sich nicht irgendwann mal über den Weg gelaufen sein? Aber Masters wohnt erst seit ein paar Monaten da, und Lister war den ganzen Tag arbeiten. Und an den Abenden, wenn sie vielleicht mal im Ort unterwegs war, ist Connie Masters mit ihrer kleinen Tochter daheim.»
«Und sie haben nie was gemeinsam unternommen, als sie noch zusammen gearbeitet haben?» Holly genoss die Abende mit den Kollegen im Pub, wenn ein Fall abgeschlossen war. Sie ließ sich gern anhimmeln.
«Offenbar nicht. So hat Jenny nicht gearbeitet. Sie hat Arbeit und Privates lieber voneinander getrennt.»
«Kommt mir trotzdem ziemlich unwahrscheinlich vor», beharrte Holly.
«Die Chefin hat mich nach meiner Meinung gefragt, und die habe ich jetzt gesagt.» Joe und Holly funkelten einander an, zwei Musterschüler, die darum wetteiferten, Klassenbester zu werden.
«Haben wir Michael Morgan schon ausfindig gemacht?», fragte Vera. Die Rivalität zwischen den jüngeren Mitgliedern ihres Teams belustigte sie manchmal, aber jetzt musste sie dafür sorgen, dass sie an einem Strang zogen und sich konzentrierten. Als alle sie nun anschauten, als hätten sie nicht die leiseste Ahnung, von wem sie da überhaupt sprach, fügte sie barsch hinzu: «Den Freund von Mattie Jones. Den Mann, in den sie sich verliebt hat, den Mann, für den sie gemordet haben will. Den Mann, der für Elias Jones so was wie ein Stiefvater war. Alles, was ich bislang über ihn weiß, ist, dass er ein merkwürdiger Typ ist. Kann sein, dass ich mich da täusche, aber suchen wir nicht nach einem merkwürdigen Typen? Wissen wir, ob er immer noch Nadeln in Menschen sticht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Wenn er sich zum Akupunkteur hat ausbilden lassen, nehme ich doch mal an, dass er ein paar Grundkenntnisse in Anatomie haben muss. Die können ja ganz nützlich sein, wenn man vorhat, eine kräftige, gesunde Frau zu erdrosseln. Wir haben wahrscheinlich noch nicht überprüft, ob er irgendwie zum Willows gehört, oder?»
Sie war froh, dass alle recht belämmert dreinsahen, obwohl sie Matties Geliebten ebenso vergessen hatte wie ihre Leute. Auch sie hatte sich auf Jenny Listers Privatleben konzentriert.
«Das will ich morgen früh als Erstes auf dem Tisch haben», sagte sie. «Adresse, was und wo er zuletzt gearbeitet hat und einen Abgleich, ob er zum Willows gehört oder gehört hat. Aber nehmen Sie noch keinen Kontakt zu ihm auf. Erst müssen wir mehr über ihn wissen. Ich habe den Eindruck, dass das ein aalglatter Typ ist. Vielleicht fahre ich nach Durham und rede mit Mattie, bevor wir ihn uns vorknöpfen.»
«Da ist sie nicht.» Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Charlie überhaupt zuhörte, aber jetzt mischte er sich ein, ein breites Grinsen im Gesicht.
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Mattie Jones ist nicht im Knast von Durham.»
«Und wo ist sie dann?» Vera funkelte ihn an. Alle Frauen der Gegend, die zu lebenslänglich verurteilt waren, kamen in den Hochsicherheitstrakt von Durham. Und Vera konnte es nicht ausstehen, wenn ihr Team sie zum Narren hielt.
«Im Krankenhaus.» Jetzt war Charlie kleinlaut geworden. «Blinddarmentzündung. Sie ist vorgestern aufgenommen worden, ein Notfall. Hat sich irgendeine Infektion eingefangen und ist immer noch da.»
«Dann besorge ich wohl besser mal ein paar schöne Weintrauben. Sie freut sich bestimmt über Besuch.»
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Vera merkte plötzlich, wie müde sie alle waren. Sie ermittelten jetzt seit einem Tag, und schon gab es zu viele Informationen. Nichts an diesem Fall war einfach. Sie musste ihr Team mehr pushen und darauf achten, dass sie aufmerksam blieben. Vielleicht würden ihnen allen ja ein paar Bahnen im Schwimmbad oder ein paar Trainingseinheiten im Fitnessraum guttun. Beim Gedanken an Charlie auf einem Stepper musste sie grinsen.
«Das Willows»,
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