Seelentraeume
»Earl Camarine.«
»Der Marschall der Südprovinzen«, sagte Charlotte.
Womöglich kannte sie Rose. »Genau. Kennen Sie ihn?«
»Ich bin ihm nie begegnet«, erwiderte Charlotte. »Ich kenne die Familie nur vom Hörensagen.«
Sie betrachtete den Wald. Die Erschöpfung stand ihr in Gestalt ihres müden, schlaffen Mundes und dunkler Ringe unter den traurigen Augen ins Gesicht geschrieben. Zweifellos hatte sie eine »Vergangenheit«, überlegte Éléonore. Das Mädchen wirkte nicht wie eine entflohene Kriminelle. Eher wie ein Opfer, das allein, aber entschlossen vor irgendetwas davonlief. Sie hatte genau denselben Blick bei ihrer Enkelin gesehen, wenn Rose kein Geld mehr hatte oder die Jungs mit einem unvorhergesehenen Notfall ankamen. Dieser Blick besagte, dass das Leben ihr wieder mal übel mitgespielt hatte, aber dass sie schon damit klarkommen würde.
»Und wo wollen Sie hin?«, erkundigte sich Éléonore.
»An keinen bestimmten Ort«, antwortete Charlotte.
»Nun, Sie sind nicht in der Verfassung, überhaupt irgendwohin zu gehen.«
Charlotte öffnete den Mund.
»Nicht in der Verfassung«, wiederholte Éléonore. »Meine Enkelin hat hier noch ein Haus. Eigentlich wollte ich es vermieten, habe aber niemanden gefunden, dem ich nicht zugetraut hätte, alles in Schutt und Asche zu legen. Jetzt ist alles voller Spinnweben, aber wenn Sie keine Angst vor Wischwasser und einem Besen haben, müssten Sie das Haus eigentlich wieder herrichten können. Sie dürfen eine Zeit lang dort wohnen. Und wenn Sie sich in Ihren Heilkünsten üben wollen, kriegen wir das auch irgendwie auf die Reihe. Dazu müssen wir Sie den Leuten nur anständig vorstellen. Die Menschen hier haben ihren eigenen Kopf.«
Mit großen Augen sah Charlotte sie sprachlos an. »Warum? Sie kennen mich doch nicht einmal. Ich könnte eine Kriminelle sein.«
Éléonore schlürfte ihren Tee. »Als Earl Camarine zum ersten Mal ins Edge kam, war ich über sein Erscheinen nicht sehr erfreut. Meine Enkelin ist etwas Besonderes, Charlotte. Alle Großeltern halten ihre Enkel für etwas Besonderes, aber was Rose angeht, stimmt das wirklich. Sie ist freundlich, klug und willensstark. Sie hat Jahre geübt und sich beigebracht, weiße Blitze zu schleudern wie die besten Blaublütigen. Und sie ist schön. Ihre Mutter starb, und ihr Vater…«
Éléonore verzog das Gesicht.
»Ich habe im Leben die falschen Entscheidungen getroffen. Ich habe nicht klug geheiratet und es geschafft, einen Sohn großzuziehen, der seine eigenen Kinder im Stich gelassen hat. John hat Rose und ihre Brüder ohne einen roten Heller sitzenlassen. Und Rose stand plötzlich als Mutter von zwei Kleinkindern da. Sie saß im Edge fest, hatte einen schrecklichen Job im Broken und gab sich alle Mühe, ihre Brüder großzuziehen. Ich wollte eine glänzende Zukunft für sie, stattdessen musste ich mitansehen, wie sie allmählich verblühte, und ich konnte nicht das Geringste dagegen unternehmen. Und dann kam Declan Camarine und legte ihr die Welt zu Füßen, versprach, sie zu lieben und sich um sie und George und Jack zu kümmern. Ich habe sie gewarnt, das sei zu schön, um wahr zu sein, aber sie ging trotzdem mit ihm fort. Wie sich herausstellte, hatte ich unrecht. Immerhin lebt sie jetzt das Leben einer Prinzessin. Ihr Mann liebt sie. Sie denken über eigene Kinder nach, sobald die Jungen aus dem Gröbsten raus sind.«
Auf Charlottes Gesicht erschien ein Anflug von Schmerz. Das war es also: Sie lief vor einer Mesalliance oder einem toten Kind davon. Armes Ding.
Éléonore lächelte. »Meine Enkelin ist glücklich, Charlotte. Sie hat alles, was ich mir für sie gewünscht habe. Als sie von hier fortging, hatte ich Zweifel, ob sie mit den Blaublütigen auskommen würde, doch ihre Schwiegermutter hat sie unter ihre Fittiche genommen. Ich bin zwar keine Herzogin, aber jetzt habe ich Gelegenheit, mit ihr gleichzuziehen. Ich würde Providence gerne vergelten, was sie für unsere Familie getan hat. Man kann uns Draytons vieles nachsagen, dass wir Piraten, Hexen, Gauner sind … aber niemand hat uns jemals vorgeworfen, undankbar zu sein. Eine Familie braucht Maßstäbe. Sogar im Edge. Sie sind willkommen, so lange Sie mögen.«
1
Drei Jahre später
Richard Mar lief durch den Wald. Aus der Wunde in seiner Flanke lief dunkles, fast schwarzes Blut. Ein schlechtes Zeichen. Vermutlich war die Leber zerfetzt. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt hast du es endlich geschafft, dich umbringen zu lassen, und das auch
Weitere Kostenlose Bücher