Seelenzorn
Fletcher und seine Freunde Horatio Kemp und Thaddeus Landrum gehörten zu den begabtesten Schülern, die wir je hatten. Die drei waren unzertrennlich. Und sie überstrahlten uns alle, so als wäre ständig ein helles Licht auf sie gerichtet.
Bis zu dem Unfall. Bis zu dem Tag, an dem sie wegen einer Wette auf den Turm kletterten und Kemp abstürzte. Sein Körper wurde zerschmettert. Normalerweise hätte ihn seine Seele verlassen ... aber Fletcher kam dem zuvor. Er ritzte das Symbol in Kemps Haut. Das hat ihm das Leben gerettet, Cesaria. Es hat ihm das Leben gerettet, aber danach war es nicht mehr lebenswert. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn man ungeschützt spiritueller Kontrolle, spiritueller Beherrschung, ausgeliefert ist ...«
Er verstummte und richtete die blauen Augen einen Moment auf die Wand hinter ihr. Chess hatte eine Gänsehaut, und in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander wie in einem Mixer.
Wenn die Seele so leicht durch Magie zu beherrschen war ... Sie konnte es sich nicht einmal vorstellen. Es musste schlimmer sein als ihre Sucht, schlimmer als das Gefühl, immer wieder schmerzhaft mit der Nase auf ihre körperlichen Bedürfnisse gestoßen zu werden. Die Sucht schenkte ihr wenigstens noch Trost und Frieden. Sie gab ihr einen Grund, morgens aufzustehen, und ein Gefühl von Schutz und Halt. Die Kirche mochte ihr eine Aufgabe gegeben haben, aber erst die Pillen machten diese Aufgabe erträglich und sorgten dafür, dass ihr unter der Last des Lebens nicht der Kopf platzte.
Aber so sehr die Sucht sie auch im Griff haben mochte, blieb ihr doch noch ein Fünkchen freier Wille. Sie hatte noch eine gewisse Entscheidungsfreiheit, war eine Marionette, die ein paar ihrer Fäden selbst in der Hand hatte.
»Er wurde beeinflussbar«, flüsterte sie.
Der Älteste Griffin nickte. »Wir haben nie genau herausfinden können, ob es an seiner Gabe oder an dem Symbol lag, aber er wurde ... verwirrt. Geister konnten seinen Körper in Besitz nehmen und ihn lenken - nicht nur mächtige Geister, sondern einfach alle. So schutzlos war er. Er fing an, nachts durch die Straßen zu streifen; keiner wusste genau, was er da tat, aber ein paarmal kam er mit Blut an der Kleidung und am Mund zurück und wusste nicht mehr, wie es dahin gekommen war.
Fletcher war außer sich vor Kummer. Als er versucht hatte, seinen Freund zu retten, hatte er ihn in Wirklichkeit verdammt. Er widmete sich ganz und gar dem Studium dieses Symbols und opferte beinahe noch das eigene Leben auf der Suche nach einer Möglichkeit, seine Tat ungeschehen zu machen. Aber er fand keinen Ausweg. Und im Zuge dessen erfuhren wir, dass es nicht allein an seinen Modifikationen lag, weshalb der Träger des Symbols so anfällig wurde. Das zugrunde liegende Symbol, das wir alle gelernt hatten, tat dies bereits von selbst. Nicht in gleichem Maße, keineswegs. Nicht einmal annähernd. Aber es vergrößerte die Gefahr der Besessenheit, der Übernahme durch einen Geist. Wir strichen es aus unseren Büchern, löschten es aus unserem Gedächtnis und entfernten es mit Laser von unserem Körper. Kemp wurde in eine Anstalt eingewiesen. Fletcher und Landrum verließen die Schule. Und wir sprachen niemals wieder darüber.«
»Und deshalb wurde Fletchers Ausbildung bei der Kirche nirgendwo erwähnt?«
Er nickte. »Wir fanden, wir sollten es vertuschen ... Sag mir, Cesaria, glaubst du, dass Oliver hinter der Erscheinung im Haus der Pyles steckt? Ist es eine echte Heimsuchung?«
Sie nahm an, dass das möglich war. Die echten Geister waren vielleicht beschworen und dann gefilmt worden, sodass die Szenen jetzt immer aufs Neue in den Räumen des Pyleschen Hauses abgespielt wurden. So war es sicherer. Auf diese Möglichkeit kam ein so kluger Mann wie Oliver Fletcher - der in seinem Gespräch mit ihr praktisch ein Schild mit der Aufschrift Ich war’s! hochgehalten hatte - sicherlich schnell; sein brillantes Gehirn spuckte solch eine Methode bestimmt ebenso beiläufig aus wie ein gefährliches Symbol.
Aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. Und es passte auf keinen Fall zu den Augäpfeln in ihrem Auto oder zu Vanita.
Sie musterte den Ältesten Griffin einen Moment lang. Hatte sie ihm nicht immer vertraut? Nicht ohne Vorbehalte, klar, aber so gut sie konnte. Und doch hatte er sie angelogen. Er hätte ihr an jenem Tag in der Bibliothek alles erklären können. Er hätte ihr einen Zettel rüberschieben können. Er wusste, dass ihr
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