Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
mich und ziehe die kleine Truhe hervor. Ich setze mich auf das Bett, die Truhe habe ich auf dem Schoß. Der erste Brief, der mir in die Hände fällt, als ich den Deckel anhebe, ist der allererste Brief, den Heribert mir je von Bord geschrieben hat. Auf dem Umschlag steht meine alte Hamburger Adresse. Der Brief wurde abgestempelt in Panama, am 13. Mai 2002. Also etwa sechs Wochen nach unserem Abschied am Bremer Hauptbahnhof. Ich lege mich auf das frisch gemachte Bett, hole die Seiten vorsichtig aus dem Umschlag und beginne zu lesen.
Westküste Südamerika, 30. 04. 2002
Hallo, meine liebe Nancy,
hier kommt nun endlich der erste Brief von mir. Ich hoffe, du hast mich in der Zwischenzeit noch nicht vergessen.
Meine ersten Tage an Bord waren sehr aufregend. Aber ich erzähle dir alles der Reihe nach.
Als ich in Gibraltar ankam, war mein Seesack nicht da. Ich blieb bis zum Schluss am Gepäckband stehen, aber irgendwann drehte es sich nicht mehr. Immerhin holte mich ein Agent am Flughafen ab und erkundigte sich auch für mich im Servicebereich nach meinem Seesack. Man sagte ihm, dass das fehlende Gepäck frühestens am nächsten Tag kommen würde. Also für mich wahrscheinlich zu spät. Der Agent brachte mich ins Hotel. Um 2 Uhr morgens wurde ich aber schon wieder geweckt. Ein Taxi brachte mich zu einem alten, verrosteten Schlepper, der fuhr dann den Agenten und mich hinüber zum Schiff. Der Wind in der Bucht von Gibraltar war so stark, dass es ziemlich gefährlich war, über die Lotsenleiter an Bord zu steigen. Und der Agent, der als Erster hochklettern sollte, wäre um ein Haar ins Wasser gefallen. Im letzten Moment konnte er sich noch festhalten. Dann war ich an der Reihe. Ich hatte ziemliche Angst davor, zunächst von dem einen auf- und abschaukelnden Boot zum anderen, ebenfalls schaukelnden Schiff hinüberzuspringen, wo ich mich dann an einer Strickleiter festklammern sollte. Aber es war zum Glück einfacher, als ich gedacht hatte. Ich muss allerdings sagen, dass ich in dem Moment fast froh darüber war, meinen schweren Seesack nicht dabeizuhaben.
Als ich oben angekommen war, nahm erst einmal niemand so richtig Notiz von mir. Der Kapitän hatte noch geschlafen und war dementsprechend schlecht gelaunt, als man ihn meinetwegen weckte. Er sah mich missmutig an und fragte: »Was? Das ist mein neuer Offiziersanwärter?« Innerlich musste ich grinsen, denn mein Name und mein Aussehen hatten mal wieder für Verwirrung gesorgt. Später erzählte er mir dann, dass er bei meinem Namen mit einem bayerischen Kerl von zwei Metern, mit blauen Augen und starkem Dialekt gerechnet hatte. Und dann stand plötzlich ich vor ihm, ein »langhaariger Latino«, wie er mich nannte. Das erzählte er mir natürlich erst viel später, nachdem wir uns besser kennengelernt hatten.
Leicht verwirrt, weil ich nicht wusste, was ich als Nächstes tun sollte und wo jetzt auch noch mein Handgepäck abgeblieben war, ließ ich mich von einem Matrosen zu meiner Kammer bringen. Da fielen mir erst einmal die Augen aus dem Kopf. Die Kammer war größer als mein Zimmer in Bremen. Die Einrichtung ist zwar etwas älter, aber dennoch ist alles sehr sauber und wohnlich. Ich habe ein riesiges Doppelbett, eine Couch, einen Schreibtisch mit Stuhl, einen großen Schrank, und das Beste: Ich habe mein eigenes kleines Bad. Ich wohne ein Deck unter dem Kapitänsdeck. Hier oben sind die Vibrationen und der Lärm aus dem Maschinenraum kaum zu hören. Ich wusste, ich würde hier ganz ausgezeichnet schlafen.
Nach etwa zwei Stunden, es war mittlerweile 5.30 Uhr, bekam ich mein Handgepäck. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Ersten Offizier, um zu erfahren, wann für mich Arbeitsbeginn wäre. »Acht Uhr morgens«, sagte der. Also beeilte ich mich, um wenigstens noch eine Stunde Schlaf abzubekommen. Ich war zwar nervös, aber ich schlief sofort ein. Eine Stunde später begann für mich der erste Tag.
Ich war müde, als ich per Telefon geweckt wurde. Nach dem Aufstehen ging ich erst einmal zum Frühstücken nach unten in die Besatzungsmesse. Bei meinem ersten Praktikum durfte ich gemeinsam mit dem Kapitän und den Offizieren in der Offiziersmesse essen. Aber nach dieser eigenartigen Begrüßung durch den Kapitän war ich mir nicht sicher. Ich wollte nichts Falsches tun und zog deshalb die Mannschaftsmesse vor. Etwa 15 Crewmitglieder waren in der Messe, fast alle von den Philippinen. Zumindest ihrem Aussehen nach zu urteilen. Die Leute schienen alle ganz
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