Seeraeuber vor Sylt
Lachen. »Ein Prinz? Ich bin Gerhard von Holstein. Mein Vater ist der Graf Heinrich von Holstein. Der Kapitän nennt mich Prinz, wenn er mich verspotten will.«
»Du bist der Sohn des Grafen …«, sagte Broder mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Grimm. »Natürlich lässt er dich dann nicht arbeiten.«
»Er hat Angst, dass ich von Bord springe«, sagte der Junge. »Er hält mich für schwermütig, weil ich geweint habe, als …« Er brach ab. Ganz leise war seine Stimme geworden, sodass Jaike, ohne zu überlegen, nach seiner Hand griff. Schmal und fein waren die kalten Finger, so als hätten sie wirklich noch nie gearbeitet.
»Was ist denn passiert?«, flüsterte Jaike.
Doch in diesem Moment hörten sie Geräusche, die von der Luke herkamen.
»Wo steckt ihr denn? Ich warte auf das Feuerholz.« Das war Ouwe. Sie konnten nicht länger bleiben!
Jaike drückte dem Jungen die Hand. »Wir kommen wieder«, sagte sie. Dann huschten sie und Broder zur Luke zurück.
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Die Geschichte vom Mann ohne Kopf
Ouwe ging es schlecht. Er saß neben seiner Kochkiste auf dem Boden und der Schweiß lief ihm die Schläfen hinunter.
»Du hast Fieber«, stellte Jaike fest, während sie mit Feuerstein und Schlageisen Funken schlug, um das Feuer in Gang zu setzen.
»Tünkram!«, polterte der Schiffskoch. »Ich hab kein Fieber. Red nicht so einen Unsinn.«
»Aber du bist doch ganz …« Jaike hielt mitten im Satz inne. Der Blick des Alten ließ sie verstummen. Natürlich! Er
durfte
kein Fieber haben. Was hatte er ihr am Morgen erzählt? Wer auch nur einen Hauch von Fieber hatte, wurde aus Angst vor der Pest über Bord geworfen!
»Deine Wunde hat sich entzündet. Deshalb ist dir heiß«, fuhr sie fort. »Das muss doch auch der Kapitän einsehen, oder?«
Ouwe antwortete nicht. »Rühr Honig in die Grütze«, sagte er stattdessen. »Ein gutes Essen ist das Beste bei übler Laune.«
Jaike ahnte, dass er damit auf die Laune des Kapitäns anspielte. Sie warf dem Koch einen fragenden Blick zu.
»Hör zu«, murmelte der Alte. »Du hast im Bug nichts zu suchen. Lass dich nicht dabei erwischen. Neugier ist an Bord genauso gefährlich wie Fieber.«
Jaike glaubte begriffen zu haben, was Ouwe ihr sagen wollte: Wenn du niemandem sagst, dass ich Fieber habe, verrate ich nicht, dass ihr unter Deck herumschnüffelt. Sie hängte einen Topf mit frischem Regenwasser über das Feuer, in dem die Grütze aufgekocht werden sollte. Dann setzte sie sich neben Ouwe. Plötzlich traute sie sich, dem Alten die Frage zu stellen, die ihr auf der Seele brannte.
»Was ist das hier für ein Schiff?«, murmelte sie, ohne den Koch anzusehen. »Doch kein normales Handelsschiff, oder?«
Ouwe zögerte. Dann richtete er sich ein paar Zentimeter auf. »Wir sind Piraten«, sagte er und es schwang so etwas wie Stolz in seiner Stimme mit. »Hast du noch nichts von Rasmus Rohlfs gehört?«
Jaike machte große Augen. »Rasmus!«, rief sie. »Der schon mit Klaus Störtebeker gefahren ist?«
Ouwe nickte. »Seit mehr als zehn Jahren sind sie hinter Rasmus her. Aber gekriegt hat ihn keiner, unserenKäpt’n!« Der Alte packte sie am Ärmel und zog sie ein Stück dichter zu sich ran. »Als damals Störtebeker und die Likedeeler hingerichtet wurden, ist er den Hamburgern entwischt. Sonst wäre er jetzt auch einen Kopf kürzer.« Ouwe strich sich mit der Handkante die Kehle entlang und Jaike erschauerte. Ihr Vater hatte ihr die Geschichte des Piraten Störtebeker erzählt. Er war im selben Jahr geköpft worden, in dem sie auf die Welt gekommen war.
»Ouwe …«, flüsterte sie und bekam plötzlich eine Gänsehaut. »Hat Rasmus zu den Männern gehört, an denen Störtebeker ohne Kopf vorbeigelaufen ist?«
Der alte Koch zuckte die Schultern. »Er spricht nicht darüber«, sagte er.
Jaike dachte an die Kisten und Ballen, die sie im Laderaum gesehen hatte. Das war also das Gut, das die Männer der Rosenboom von anderen Schiffen geraubt hatten! … Junge, Junge, das musste sie Broder erzählen. Dagegen war ja ihr Schatz auf Tades Eiland nur eine Kleinigkeit.
Sie stand auf, weil das Wasser im Topf zu kochen begann. Dann drehte sie sich noch mal zu Ouwe um. »Ich würde den Kapitän gerne mal fragen, wie es damals zuging«, sagte sie.
Doch der alte Koch hörte sie nicht mehr. Ihm war der Kopf auf die Brust gesunken. Das Fieber hatte ihn in einen unruhigen Schlaf fallen lassen. Jaike seufzte. Es würde schwer werden, dem Kapitän zu verheimlichen, dass es Ouwe so
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