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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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musste erst wieder das Gefühl bekommen, die Kontrolle zu haben – wenn auch nur über ein Bike oder ihre innersten Gedanken –, deshalb flog sie in einer immer größer werdenden Spirale durch die Stadt, besichtigte die Sehenswürdigkeiten und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.
    Das Problem war, dass ihre Gedanken jedes Mal, wenn sie nicht beschäftigt war, unweigerlich zu ihrer Schwester abschweiften. Telen war Antaeas einzige Angehörige ; sie hatte sich um die kleine Schwester gekümmert, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Sie hatte kämpfen gelernt, um Telen vor den Rabauken beschützen zu können, von denen sie schikaniert wurden, weil sie Staatsmündel waren. Telen war immer die Denkerin, die Leseratte gewesen, Antaea dagegen handelte. Welche Ironie, dass ausgerechnet Telen im Alter von zwanzig Jahren Pacquaea verließ, um sich auf die Suche nach dem legendären Heimatschutz zu machen. »Ich kann nicht den Rest meines Lebens in diesem schäbigen kleinen Land verbringen«, hatte sie Antaea angeschrien, als die sie von der Unsinnigkeit ihres Plans zu überzeugen suchte. »Und wenn ich auf der Suche im Dunkeln erfriere oder verhungere, die Hoffnung auf ein besseres Leben gebe ich nicht auf.« Also waren sie gemeinsam ausgezogen und hatten wider Erwarten nicht nur den Heimatschutz, sondern dabei auch ein neues Leben gefunden. Und eine neue Familie, hatte Antaea manchmal gedacht.

    Antaea hatte ihr Leben in Gonlins Hände gegeben, und Gonlin hatte sich mit dem Versprechen revanchiert, Telen zu töten, falls Antaea irgendjemanden im Heimatschutz verriete, was seine Gruppe trieb.
    So viel zum Thema Familie.
    Gegen Morgen fand sie sich am Rand von Stonecloud wieder, wo man unversehens in leere Weiten blickte, wenn man um eine Ecke bog oder den Kopf hob. Zunächst sah es hier nicht anders aus als im Stadtkern, doch dann umrundete sie einen hohen Kegel aus Bäumen und blitzendem Glas und wäre beinahe in eine Menschentraube hineingeflogen.
    Antaea riss mit einem Fluch das Bike so heftig herum, dass sie beinahe aus dem Sattel stürzte. Sie wendete noch einmal und suchte zu begreifen, was sie da sah. Hunderte – vielleicht Tausende von Menschen hatten sich hier draußen versammelt, ihre Stimmen übertönten sogar das Heulen des Jets. Offenbar redeten und schrien sie alle zugleich.
    Die Menschen hingen zu zweit, zu dritt und in größeren Gruppen in Fenstern und Hauseingängen und stauten sich an den Kreuzungen der Hauptverkehrsader. Viele deuteten und gestikulierten; Antaea hörte eine Frau etwas schreien, konnte sie aber auf die Entfernung nicht verstehen. Sie wandte sich in die Richtung, in die alle Blicke gingen.
    Jenseits der Stadtgrenzen hing ein seltsames Ding am Himmel. Ein Leuchten, eine Silhouette, die aber, je länger sie hinschaute, nicht sein konnte, wonach sie aussah.
    Antaea wendete das Bike und raste mit aufheulendem Motor aus der Stadt ins Freie. Sie schoss nach
oben, vorbei an einer Wolkenbank, die sich kurzzeitig vor das Ding geschoben hatte. Ganz oben auf der Wolke stand wie auf festem Boden ein zweites Bike, dessen Flieger wie gebannt auf die andere Seite des Nebels starrte.
    Antaea flog auf den Jet zu, stellte zehn Meter, bevor sie ihn erreichte, den Motor ab und ließ ihr Bike näher driften. Nun sah sie, dass die Gestalt im Sattel ein Mann war, der die Hände über dem Lenker gefaltet hatte. Er starrte in die Nacht hinaus, die wie eine Decke um die Stadt lag.
    Â»Hallo«, rief sie. Er schaute kurz zu ihr herüber, wandte sich aber gleich wieder der Dunkelheit zu. »Worauf starren denn alle so unverwandt?«, fragte sie.
    Er streckte nur schweigend die Hand aus. Antaea schwebte an den letzten Wolkenfetzen vorbei und stieß einen Fluch aus, als sie sah, was er meinte.
    Die Fratze eines bärtigen Gottes – viele Kilometer hoch und breit – war auf Stonecloud gerichtet. Der Mund war weit geöffnet wie zu einem lautlosen Schrei.
    Antaea überlief es eiskalt; ihre Nackenhaare sträubten sich, und ein Zischen entfuhr ihr. Die abergläubische Furcht legte sich erst, als sie erkannte, dass das Gesicht – es war wirklich da, und es war wirklich so groß – mit Lichtern an den Nachthimmel gezeichnet war. Tausende von Leuchtkörpern, zu Streifen und Blöcken angeordnet, bildeten die Züge des zürnenden Gottes. Bei näherem Hinsehen

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