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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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im Licht qualmender Bogenlampen. Die goldene Kugel aus Korbgeflecht in ihrem Innern drehte sich gravitätisch, bunte Scheinwerfer an der Oberfläche streckten Lichtarme in die Tiefen und in die Lauben der umwölkten Nachbarviertel. Scharen von Menschen strömten von allen Seiten auf diesen Punkt zu.
    Â»Aber – aber wieso?« Abermals stellte sie den Motor kurz an, um den Mann einzuholen, der mit ihr gesprochen hatte. »Was gibt es denn im Zirkus?«

    Er lachte wieder. »Corbus!«
    Â»Der Kraftmensch ?«
    Er nickte. »Es kam zu Unruhen, die Menschen fingen an, die Regierungsbüros zu verwüsten. Jemand hatte einen Informanten zu fassen bekommen, und die Menge drohte, ihn in Stücke zu reißen. Da taucht Corbus auf. Er hat einen Beutel Wolle dabei. Anscheinend strickt er! Er wirft den Beutel weg und stellt sich gegen die ganze Horde! Schlägt zwanzig Männer nieder und sagt, sie sollen sich nicht benehmen wie kleine Kinder. Dann springt er auf ein Podium und fängt an zu reden. Erzählt Witze, bis er alle zum Lachen bringt. Und dann …«
    Â»Was?«
    Â»Organisiert er. Schickt Gruppen aus, um die Feuer zu löschen, nach den Alten zu sehen … Er übernimmt die Führung!«
    Jetzt ging ein Aufschrei durch die Menge, in dem der Rest seiner Erklärungen unterging. »Corbus, Corbus, Corbus!«
    Antaea lehnte sich verblüfft zurück. Die Bullen hatten die Stadt im Stich gelassen, und jemand hatte sich hingestellt und das Heft in die Hand genommen. Ein Zirkuskünstler! Es war rührend und erhebend zugleich, und sie hätte sich gern von diesen Menschen – Menschen, die sie nicht kannte, die sie eigentlich nichts angingen – zur Arena mitziehen lassen. Aber sie musste erst Chaison finden.
    Es sei denn … Ihr kam ein Verdacht. Nein. Oder doch! Chaison Fanning war ein Romantiker, ein Mann, der allen Ernstes an seine hehre Verpflichtung glaubte – ein Anachronismus in einer zunehmend zynischeren Welt.
Es sähe ihm ähnlich, zwei Raufbolde zu trennen, ein Feuer zu löschen, Aufrührer zur Ordnung zu rufen und sie mit der Sorge für die Alten zu betrauen … Corbus und er waren verwandte Seelen. Und wenn er von dem Machtvakuum in der Stadt gehört und außerdem erfahren hätte, dass jemand die Verantwortung übernommen hatte …
    Sie wendete das Bike und steuerte auf die Arena zu, einen Hexenkessel voller Menschen, die wie aufgescheuchte Fische mit hektischen Flügelschlägen hierhin und dorthin flatterten. Insgesamt bewegte sich jedoch alles der Mitte zu, und sie folgte und hielt nur an, um das Bike in einem nahe gelegenen Wäldchen anzubinden.
    Niemand kontrollierte Eintrittskarten, die Menschen strömten einfach über den Rand der Schale, zogen sich Hand über Hand an den Seilen entlang, die kreuz und quer durch den Innenraum gespannt waren, und suchten sich einen Platz. Es herrschte ein ungeheurer Lärm, ein stumpfsinniges, unentwegt wiederholtes »Cooorbus, Cooorbus«. Die Stimmung konnte jederzeit umschlagen, und Antaea fühlte sich mitgerissen, wie sie es nicht mehr erlebt hatte, seit sie als Kind zu Hause die städtischen Spiele besucht hatte. Es war erschreckend und berauschend zugleich, und während sie noch dagegen ankämpfte, wurde sie von erdrückender Einsamkeit überfallen. Jeder hier war offenbar mit jemandem gekommen, und sogar die Eigenbrötler waren heute Abend eins mit ihrer Stadt.
    Antaea schüttelte das Gefühl ab. Sie war hier, um das Leben ihrer Schwester Telen zu retten. Dies war das Ziel von allem gewesen, was sie in den letzten Wochen
getan hatte. Die Menschen, diese Stadt, sogar der Admiral waren nur einzelne Schritte auf dem Weg dorthin.
    Der Sprechchor geriet ins Stocken, nun brauste unartikuliertes Gebrüll durch die Arena. Antaea hockte sich auf eines der Seile und schaute nach oben. Die majestätisch rotierende goldene Kugel im Zentrum war zum Stillstand gekommen, nun glitten Scheinwerfer darüber hin und blieben auf einer Stelle an der Oberfläche ruhen. Jetzt sah sie, dass dort allerhand Gerätschaften hingen: Trapeze, Kanonen, Netze, Wasserskulpturen, Käfige und Spiegelbälle, die sich drehten. Der Zirkus hätte die Kugel als luftige Manege verwendet, und bei schnellerer Rotation hätten die Artisten bei ihren Darbietungen gefährlich dicht über den Köpfen der Menge gehangen. Dergleichen war in Virga eine Seltenheit,

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