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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Zusammenkunft«, sagte er zerstreut. »Eine öffentliche Kundgebung. Das sind keine Soldaten.« Hoffentlich sind es keine Soldaten.
    Unter den restlichen Bildern fand er eines, das eine ähnliche Formation in einem anderen Teil der Stadt zeigte. Alle Fotos waren mit Teleobjektiven aufgenommen
worden. Die Atmosphäre und die Abgase der Motoren sorgten für eine gewisse Unschärfe. »Verdammt! Da ist die halbe Stadt versammelt …«
    Er stieß einen lauten Pfiff aus, und viele Köpfe drehten sich nach ihm um. »Ich brauche jemanden, der Neverland kennt. Der schon einmal dort gelebt hat.« Nach kurzer Beratung löste sich eine Frau in mittleren Jahren aus der Menge. Chaison winkte sie zu sich und zeigte ihr die Bilder.
    Â»So etwas findet dort andauernd statt«, sagte sie. »Es handelt sich um Propagandakundgebungen, man will sicherstellen, dass auch jeder begreift, an welchem Märchen sich die Tagespolitik gerade orientiert. Es wäre gut zu wissen, wie die Geschichte heute lautet …« Sie gab das Bild achselzuckend zurück. »Die Teilnahme ist Pflicht, aber gerade deshalb haben die Kundgebungen an Wirkung verloren. Niemand interessiert sich dafür; Sie finden kaum eine abgebrühtere Zuhörerschaft als die Stadtbevölkerung der Gretel. Die Regierung schreit viel zu oft Zeter und Mordio. Wenn sie also hofft, damit die Menschenmassen in Begeisterung zu versetzen, ist das eher unwahrscheinlich.«
    Chaison sparte sich die Frage, was »Zeter und Mordio« bedeutete. Ihre Aussage beruhigte ihn nicht. »Sie erwarten, dass ihre Bürger zu Eroberern werden«, überlegte er. »Das wurde sicherlich von langer Hand vorbereitet. «
    Â»Schon möglich.« Wieder zuckte sie die Achseln. »Aber der Regierung glaubt niemand ein Wort.«
    Die Arbeiten wurden auch während der Nacht nicht zurückgefahren, doch Chaison war am Ende seiner Kräfte. Während er sich in eine neue, größere Wohnung
auf einem der Habitaträder fliegen ließ, sah er im Geiste immer wieder ein Bild vor sich: Neverlands Bevölkerung, wie sie mit Schwertern, Messern und selbstgemachten Schlagstöcken durch Stonecloud strömte. Was hatte man diesen Leuten über die Menschen erzählt, die sie unterjochen sollten? Chaison war gewöhnt, die Bürger der Falkenformation zu fürchten und ihnen zu misstrauen; erst seit kurzem sah er sie so, wie sie waren, als gewöhnliche Menschen nämlich, die sich bemühten, unter einem repressiven System ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Gretel waren die Altmeister der Wirklichkeitsverzerrung. Hatten sie ihren Bürgern eingeredet, Stonecloud sei voll von Trollen und bösen Hexen, die alle den Tod verdienten?
    Seine Begleiter setzten ihn an der Achse des sechzig Meter großen Wohnrades ab. Als er ganz oben in einen Schlitz stieg und sich mit großen Sprüngen in höhere Schwerkraft und Höhenangst vorarbeitete, schwelgte er in Träumen von Freiheit und grenzenlosem Himmel. Es wäre schön, als neuer Mensch mit anderem Namen in einer abgelegenen Ecke der Welt umherzufliegen …
    Er erreichte die kleine Wohnung am Ende eines ruhigen, mit Teppich ausgelegten Gangs, trat ein und schloss dankbar die Tür.
    Hier drin war es sehr dunkel. Er zog sich aus, ließ seine Kleider achtlos fallen und tastete sich dahin vor, wo er das Bett vermutete. Erst als er hineinstieg, erkannte er, dass Antaea bereits darin lag.
    Sie lachte leise. »Hallo.«
    Â»Hallo.« Er spürte ihre Wärme und lächelte in die Dunkelheit hinein. Es wäre so einfach, sich einfach zur Seite zu drehen und sie in die Arme zu nehmen; aber
sie waren – er wusste nicht genau, wann – zu einer stillschweigenden Übereinkunft gelangt. Auch wenn sie sich zueinander hingezogen fühlten, war das in dem Spiel, das Antaea im Namen ihrer Vorgesetzten vom Heimatschutz spielte, verboten. Für ihn war das eine ungeheure Erleichterung, es ermöglichte ihm, unbefangen mit ihr zu verkehren. Die Enthaltsamkeit bildete eine kleine Insel des Vertrauens, auf die sie sich beide flüchten konnten.
    Â»Wie lange?«, murmelte sie, und er verstand sofort.
    Â»Höchstens noch ein paar Stunden«, antwortete er. »Im Morgengrauen geht es los.«
    Dann drehte er sich um, spürte, wie sie sich neben ihm entspannte, und schlief sofort ein.
    Â 
    Für die Gretel kam der Morgen drei Stunden zu früh. Als

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