Segeln im Sonnenwind
Häuser in der Stadt und möglicherweise das modernste, da Vater rasch alle wirklich nützlichen Erfindungen übernahm, sobald sie verfügbar wurden. In dieser Frage imitierte er Mr. Samuel Clemens – und zwar in voller Absicht.
Vater hielt Mr. Clemens für einen der gescheitesten Männer in Amerika, möglicherweise den gescheitesten überhaupt. Mr. Clemens war siebzehn Jahre älter als Vater, der durch die Geschichte vom Hüpfenden Frosch zum erstenmal auf »Mark Twain« aufmerksam geworden war. Von da an las er alles, was er von den Werken Mr. Clemens' in die Finger kriegen konnte.
Im Jahr meiner Geburt schrieb Vater an ihn und beglückwünschte ihn zu A Tramp Abroad. Mr. Clemens antwortete höflich und mit trockenem Humor; Vater rahmte den Brief ein und hängte ihn in der Praxis auf. Danach schrieb er jedesmal an den Autor, wenn ein neues Buch von »Mark Twain« erschien. Direkte Folge dessen war, daß die kleine Maureen, in einer Ecke der väterlichen Praxis zusammengerollt, alle veröffentlichten Werke des Mr. Clemens las. Mutter konnte mit diesen Büchern nichts anfangen; ihrer Meinung nach waren sie vulgär und untergruben die gute Moral. Gemäß der eigenen Werte hatte Mutter sicher recht; nach dem Maßstab aller »rechtschaffenen« Leute war Mr. Clemens eindeutig subversiv.
Ich sehe mich zu der Vermutung genötigt, daß Mutter ein unmoralisches Buch wohl am Geruch erkennen konnte, da sie niemals auch nur eine Zeile von Mr. Clemens gelesen hatte.
Also blieben diese Bücher auf die Praxis beschränkt, wo ich sie, neben anderen Werken, die niemals in unserer guten Stube auftauchten, geradezu verschlang. Es handelte sich dabei nicht nur um medizinische Werke, sondern auch um Fälle dreister Subversion, wie zum Beispiel die Vorträge Colonel Robert Ingersolls oder (am besten überhaupt) die Essays von Thomas Henry Huxley.
Ich werde nie den Nachmittag vergessen, an dem ich Professor Huxleys Essay über »Das Gadarener Schwein« gelesen habe. »Vater«, rief ich aufgeregt, »sie haben uns die ganze Zeit belogen!«
»Wahrscheinlich«, pflichtete er mir bei. »Was liest du da?«
Ich sagte es ihm. »Na, da hast du für heute genug gelesen. Professor Huxley ist eine starke Medizin. Reden wir mal ein bißchen. Wie kommst du mit den Zehn Geboten weiter? Steht deine abschließende Version inzwischen?«
»Vielleicht«, antwortete ich.
»Wie viele sind es bislang geworden?«
»Sechzehn, denke ich.«
»Zu viele.«
»Wenn du mir nur gestatten würdest, die ersten fünf wegzulassen…«
»Nicht, solange du unter meinem Dach wohnst und an meinem Tisch ißt. Du siehst ja, daß ich zur Kirche gehe und dort mitsinge, nicht wahr? Ich schlafe nicht mal während der Predigt! Maureen, so zu tun, als ob, ist eine unverzichtbare Fertigkeit, wenn man überleben will… überall und immer. Erzähl mir mal deine aktuelle Version der ersten fünf.«
»Vater, du bist schrecklich und wirst noch ein schlimmes Ende nehmen!«
»Nicht, solange ich es vermeiden kann. Und jetzt halte mich nicht länger hin.«
»Ja, Sir. Das Erste Gebot: Du sollst dich öffentlich zum Gott der Mehrheit bekennen, ohne zu kichern oder auch nur hinter vorgehaltener Hand zu lächeln.«
»Weiter.«
»Du sollst dir kein irgendwie geartetes Götzenbild machen, das die Herrschenden verärgern könnte, besonders die Tugendwachteln – was auch, exempli gratia, der Grund ist, warum dein Anatomiebuch die Klitoris nicht zeigt. Das würde denen nicht gefallen, denn sie haben ja keine.«
»Oder möglicherweise bananengroße«, antwortete Vater, »was jedoch niemand herausfinden soll. Zensur ist niemals logisch, aber wie bei Krebs ist es gefährlich, sich nicht darum zu kümmern, wenn sie erst mal aufgetaucht ist. Liebes, der Zweck des Zweiten Gebotes besteht einfach darin, das Erste zu bekräftigen. ›Götzenbild‹ steht für jedes Idol, das zum Rivalen des offiziellen Gottes werden könnte; der Begriff hat nichts mit Skulpturen oder Kupferstichen zu tun. Mach weiter.«
»Du sollst Gott den Herrn nicht lästern… was bedeutet, daß man nicht fluchen oder Wörter wie ›Scheiße‹ benutzen soll – oder überhaupt irgendeinen Begriff, den Mutter für vulgär halten könnte. Vater, da verstehe ich etwas nicht. Wieso ist ›Vagina‹ ein gutes Wort, ›Möse‹ dagegen ein schlimmes? Erklär mir das mal!«
»Beides sind schlimme Worte, wenn sie aus deinem Mund kommen, Kleines, es sei denn, du sprichst mit mir… in welchem Fall du aus Respekt vor meiner
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