Seherin von Kell
ruhig abwartete. Sobald ein Grolimkopf über dem Treppenrand erschien, trat der alte Mann schwungvoll dagegen, und da es hinab zu den Steinen des Amphitheaters dreißig Fuß waren, versuchte kaum ein Grolim, den er hinuntergestoßen hatte, den Aufstieg ein zweites Mal.
Als sie schließlich am Fuß der Treppe angelangten, lebten nicht mehr allzu viele von Zandramas' Grolims. In seiner üblichen Vorsicht rannte Sadi erst um eine Seite der Treppe, dann die andere und stieß seinen Giftdolch in die Leiber der Grolims, die auf den Boden des Amphitheaters gestürzt waren – in die Toten ebenso wie in die Verwundeten.
Zandramas wirkte etwas erschrocken über den gewalttätigen An-marsch ihrer Gegner. Trotzdem wich sie nicht von der Stelle und richtete sich verächtlich und herausfordernd auf. Hinter ihr stand, mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund, ein Mann, der eine billige Krone und abgetragen wirkende königliche Robe trug. Seine Züge wiesen eine vage Ähnlichkeit mit denen Zakaths auf, deshalb folgerte Garion, daß er der Erzherzog Otrath war. Und dann sah Garion endlich seinen kleinen Sohn. Während des blutigen Abstiegs hatte er vermieden, zu dem Jungen zu blicken, da seine Konzentration lebenswichtig war und er sich seiner Reaktion nicht sicher sein konnte. Wie Beldin gesagt hatte, war Geran kein Baby mehr. Die blonden Locken verliehen dem Gesicht Sanftheit, doch es war nichts Sanftes in seinen Augen, als er dem Blick seines Vaters begegnete. Ganz offensichtlich haßte Geran die Frau, die ihn am Arm festhielt, aus tiefstem Herzen.
Ernst hob Garion salutierend das Schwert zu seinem Visier, und ebenso ernst hob Geran als Erwiderung die freie Hand.
Dann ging der rivanische König unerbittlich auf sie zu und hielt nur einmal lange genug inne, um mit dem Fuß einen körperlosen Schädel aus dem Weg zu rollen. Die Unsicherheit, die er in Dal Perivor verspürt hatte, war vergessen. Zandramas stand nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und die Tatsache, daß sie eine Frau war, hatte keine Bedeutung mehr. Er hob sein flammendes Schwert, während er unbeirrt vorwärtsschritt.
Der flackernde Schatten am Rand seines Blickfelds wurde dunkler, und Garion zögerte, als die unerklärliche Angst wuchs. So sehr er auch dagegen ankämpfte, er vermochte sie nicht zu unterdrücken.
Er stockte.
Der anfangs vage Schatten festigte sich hinter der
schwarzgewandeten Zauberin zu einer gräßlichen Fratze von gewaltiger Größe. Die Augen wirkten seelenlos leer, und der Mund war leidvoll aufgerissen, wie nach einem unbeschreiblichen Verlust, so als wäre der Besitzer dieses Gesichts aus einem hehren Ort des Lichtes und der Herrlichkeit in unvorstellbares Grauen gestürzt worden. In diesem Ausdruck des Verlusts war jedoch kein Mitleid, keine Güte zu spüren, sondern das unerbittliche Bedürfnis des gräß-
lichen Wesens andere mit in sein Elend zu ziehen.
»Seht hier den König der Hölle!« rief Zandramas triumphierend.
»Flieht jetzt und lebt noch ein paar Atemzüge, ehe er euch alle in ewige Finsternis, ewige Flammen und ewige Verzweiflung zieht!«
Garion blieb stehen. Er konnte sich diesem Grauen keinen weiteren Schritt nähern.
Da kam eine Stimme aus seiner Erinnerung zu ihm und mit der Stimme ein Bild. Er schien auf einer feuchten Lichtung irgendwo in einem Wald zu stehen. Regen nieselte vom tiefhängenden Nachthimmel, und das tote Laub unter seinen Füßen war klumpig von Nässe. Völlig unberührt sprach Eriond zu ihnen. Plötzlich wurde Garion bewußt, daß es kurz nach seinem ersten Kampf mit Zandramas gewesen war, die sie in Drachengestalt angegriffen hatte.
»Das Feuer war doch gar nicht echt«, hatte der Jüngling erklärt.
»Wußtet ihr das denn nicht?« hatte er erstaunt gefragt. »Es war nur ein Trugbild. Das ist alles, was das Böse je wirklich ist – eine Täuschung. Tut mir leid, wenn ihr euch Sorgen gemacht habt, aber ich hatte keine Zeit für Erklärungen.«
Das war der Schlüssel, das verstand Garion jetzt. Halluzination entstand aus Wahnsinn; Illusion nicht. Er verlor nicht den Verstand.
Das Gesicht des Königs der Hölle war so wenig echt, wie das Trugbild von Arell gewesen war, das Ce'Nedra im Wald außerhalb von Kell gesehen hatte. Die einzige Waffe, die das Kind der Finsternis gegen das Kind des Lichtes hatte, war Illusion, eine geschickte Täuschung des Geistes. Es war eine mächtige, aber zerbrechliche Waffe.
Ein Lichtstrahl konnte sie zerstören. Er schritt weiter.
»Garion!« rief
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