Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
über die Zugbrücke gefahren und im Schlosshof zum Stehen gekommen, ertappte sie sich dabei, dass der Gedanke, nun wenigstens Nantes schnell erreichen zu können, ihr eine tröstliche Zuflucht bot.
Francine stieg zuerst aus dem Wagen, ihre Stimmung hatte sich, je näher sie dem Schloss gekommen waren, deutlich gehoben. Bérénices Bemühungen, ohne die Schwester zu reisen, waren allesamt ins Leere gelaufen, und irgendwann hatte sie den Kampf aufgegeben. Ich werde sie auf Schloss Troyenne zurücklassen. Sie gehört hierher, überlegte Bérénice, während sie sich aus dem Wagen helfen ließ. Und wieder landeten ihre Gedanken bei Julien, suchten den Vorteil, den diese Entscheidung mit sich bringen würde, und fanden ihn umgehend: eine Möglichkeit, Julien auf Gut Lemoine zu empfangen, ohne die Entdeckung eines Treffens durch die Schwester befürchten zu müssen.
Amédés Anblick riss sie aus ihrem Tagtraum. Das Erstaunen über ihre Ankunft war ihm anzusehen, erfreut umarmte er Francine zur Begrüßung. Dann kam er auf Bérénice zu. »Mein Täubchen«, sagte er und lächelte, »welch schöne Überraschung! Hattet ihr eine gute Reise?«
Er konnte es nicht lassen. Immer noch nannte er sie nach einem Federvieh, das für Reinheit und Einfalt stand. Wie wenig er über sie wusste. »Danke, uns geht es gut. Bist du wohlauf?«, entgegnete sie knapp.
»Ja, leider habe ich just wenig Zeit, ich bekomme gleich Besuch.«
»Wen erwartest du?«
Für einen Wimpernschlag huschte ein Schatten über das Gesicht ihres Mannes. »Der Bauer, der mich damals im Wald … Du weißt schon, wer. Er wünscht, mich zu sprechen.«
»Oh, ich habe ihn noch nicht kennengelernt, und es ist überfällig, ihm zu danken«, sagte Bérénice und hakte sich bei Amédé unter.
Er blieb stehen. Schaute auf ihren Arm, als wäre er ein Fremdkörper, und zögerte. »Du willst mitkommen? Es wird um Dinge gehen, die nicht für Frauenohren geeignet sind, befürchte ich«, sagte Amédé und rückte ein Stück von ihr ab.
»Ich kann mich immer noch, wenn es mir zu viel wird, zurückziehen.« Bérénice bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln.
Ein Schulterzucken, dann geleitete Amédé sie in den Saal. Seinem Knappen gab er Anweisung, dass der Bauer hereingeführt werden solle.
Interessiert beobachtete Bérénice den hinkenden Mann, der wenig später auf Amédé und sie zukam. Er hielt sich an einem Treibstecken fest, sein Haar war, wie es sich für einen Bauern gehörte, kurz geschnitten, endete auf Kinnhöhe. Seine Züge waren gleichmäßig, nicht schön, aber angenehm und vertrauenerweckend. Sein groß gewachsener Körper ließ ihn trotz des freundlichen Gesichts männlich wirken. Neugierig lehnte Bérénice sich vor. Was dieser Mann zu berichten hatte, musste wichtig sein, wenn Amédé ihn empfing. Dass der Hauptmann ebenfalls anwesend war, störte sie, und es war offensichtlich, dass es ihm nicht anders ging: Mit gerunzelter Stirn schien er darauf zu warten, dass sie den Saal verließ.
Der Bauer begrüßte die Anwesenden angemessen und lehnte es dankend ab, Platz zu nehmen. »Herr Baron, ich möchte nicht zu viel Eurer Zeit in Anspruch nehmen«, sagte er. »Es ist mir jedoch wichtig, Euch darüber zu informieren, dass die Magd Soazig, die auf Port-Saint-Luc vermisst wurde, inzwischen aufgefunden worden ist. Sie ist ebenfalls …« Der Bauer brach ab und schaute unsicher zu Bérénice herüber, die ihmaufmunternd zunickte. Er senkte die Stimme: »Sie ist erwürgt aufgefunden worden. Pfarrer Jeunet ist darüber durch einen Boten in Kenntnis gesetzt worden.«
»Ja, auch wir wurden bereits darüber in Kenntnis gesetzt«, sagte Amédé.
Bérénice stöhnte auf. Dieses kurze, unkontrollierte Geräusch, das hörbar gewordene Entsetzen erfreute den Hauptmann. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein abfälliges Grinsen.
Der Bauer blickte mitfühlend zu ihr herüber, holte dann aber Atem, um weitere Hiobsbotschaften zu überbringen: »Zudem wurde inzwischen eine Mantelspange aufgefunden, die der Tagelöhner Gabin in seiner Hand hielt.«
Amédé legte den Kopf schräg und rieb sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Können wir sie sehen? Hast du sie dabei?«
Der Bauer schüttelte verlegen den Kopf. »Verzeiht mir, dass ich nicht daran gedacht habe, sie mitzubringen. Vater Jeunet bewahrt sie auf. Sie ist aus Silber gefertigt, rund und besteht aus Ranken, die sich ineinanderwinden. Die Frau des Tagelöhners entdeckte sie in der Hand ihres
Weitere Kostenlose Bücher