Sehnsucht
Kleidern, die sie am Leib trugen. Er fühlte sich schmutzig, niedergeschlagen und erschöpfter als jemals zuvor.
Die automatische Tür ging hinter ihm auf und Schritte kamen zu seiner Linken zum Stehen. Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer es war. Bo war in der Station geblieben und hatte auf ihn gewartet. Er ließ die Schultern hängen und wetzte die Spitze seines Sneakers gegen den Bordstein.
»Niemand gibt dir die Schuld«, sagte Bo sanft.
Sam lächelte grimmig auf seine Füße. »Nicht einmal Andre?«
Bos Schweigen sagte mehr als Worte.
»Er trauert«, sagte Bo einen Moment später. Das kaum merkliche Zittern seiner Stimme war der einzige Hinweis auf seine eigene Trauer. »Gib ihm Zeit. Im Innern weiß er, dass es nicht deine Schuld war.«
Sam hob den Kopf, um Bos gehetztem Blick zu begegnen. »Du weißt genauso gut wie ich, dass Amy nicht gestorben wäre, wenn ich dich nicht so bedrängt hätte. Wenn ich nicht zugelassen hätte, dass meine Gefühle mit mir durchgehen.«
Sie starrten einander eine lange Zeit an. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Bo brach als erster den Blickkontakt.
»Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich dich wollte. Wenn ich es einfach nur zugegeben hätte, anstatt zu versuchen, es zu leugnen, dann wärst du nicht so wütend und frustriert gewesen und das… das Ding hätte kein Portal in unsere Welt gefunden.«
Sam wollte nichts mehr, als Bo in seine Arme zu ziehen, ihn festzuhalten, sein Haar zu küssen und sich von ihm wärmen zu lassen. Aber sein schlechtes Gewissen wog zu schwer, als dass er die Hände hätte ausstrecken können. Er atmete langsam und tief ein.
»Vielleicht haben wir beide ein bisschen Schuld daran«, sagte Sam leise. »Aber am Ende bin ich immer noch der Fokus. Ich bin der Kanal, den es benutzt hat, um sich zu manifestieren. Und ich kann diese Verantwortung nicht jemand anderem zuschieben. Weil ich zu dem Zeitpunkt schon ganz genau wusste, was ich bin und was passieren kann, wenn ich nicht vorsichtig bin.«
Ein uniformierter Polizist verließ das Gebäude und deutete ihnen, ihm zu folgen. Bo hatte keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen. Sie folgten ihm und kletterten folgsam auf die hinteren Sitze des Polizeiautos.
Sam starrte während der kurzen Fahrt zum Motel aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich zugezogen. Blitze durchzuckten die feuchte Luft und Windstöße fuhren durch die Bäume.
Als sie ihr Ziel erreichten, stiegen Sam und Bo aus und gingen ohne ein Wort hinein. Die drei Räume des Teams befanden sich auf dem gleichen Stockwerk, aber nicht nebeneinander.
Sie erreichten als erstes das Zimmer, das sich Bo und Andre teilten. Bo sah auf die geschlossene Tür und drehte sich dann mit einem verzweifelten Leuchten in den Augen zu Sam um.
»Ich werde Bay City Paranormal nicht im Stich lassen«, versprach Sam, der erraten hatte, was Bo dachte. »Es sei denn, du willst mich nicht zurück.«
Bo entkam ein kleines, leises Lachen. Und bevor Sam wusste, wie ihm geschah, zog Bo ihn in eine feste Umarmung.
»Du musst im Team bleiben, Sam«, flüsterte Bo gegen seine Wange. »Ich brauche dich. Das hier ist noch nicht vorbei.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit glomm ein Hoffnungsschimmer in Sams Herz auf. Er legte seine Arme um Bos Taille, schloss die Augen und atmete Bos Geruch ein.
»Ich weiß. Ich werde nicht weggehen.« Sam versuchte den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. »Sofern sie mich nicht einsperren.«
»Das werden sie nicht.« Bo löste sich aus der Umarmung und ergriff Sams Hände. »Es gefällt der Polizei zwar nicht, aber sie haben nicht genug Beweise gegen einen von uns. Aus dem einfachen Grund, dass wir nicht…«
Bo stockte und sprach nicht weiter, aber Sam verstand. Keiner von ihnen musste es aussprechen.
»Nacht, Bo«, sagte Sam. »Wir sehen uns dann morgen.«
Bo antwortete nicht. Stattdessen legte er eine Hand in Sams Nacken und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen.
Noch bevor Sam darauf reagieren konnte, steckte Bo seine Schlüsselkarte in den Kartenschlitz, schlüpfte ins Zimmer und war fort.
Sam stand noch ein paar Minuten da und starrte verwundert auf die Tür. Als er schließlich in Richtung seines eigenen Zimmers ging, war der eisige Klumpen in seinem Magen ein klein wenig aufgetaut.
Epilog
Ein Monat später
Sam ließ sich mit einem erleichterten Seufzen aufs Bett fallen.
»Ich will nie wieder umziehen«, murmelte er mit geschlossenen Augen. Niemand war da, um ihm zu antworten.
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