Sehnsucht nach Leben
Lebensgefühl, das die Seele stärkt.
Als ich für einige Monate ins Ausland ging, hat mich ein Gedicht von Hilde Domin begleitet:
Ziehende Landschaft
Man muà weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muà den Atem anhalten,
bis der Wind nachläÃt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unsrer Mutter. [9]
â... wo es auch sei ...â: Vielleicht drückt das am schönsten die Erfahrungen aus, die auch Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Auswanderer oder Ausgewiesene beschreiben: Heimat findest du, wenn du in dir selbst Wurzeln hast. Du musst wissen, wer du bist, wofür du stehst. Besiege deine Angst vor dem Weggehen, vor Veränderung. Habe den Mut, neue Wege zu beschreiten. Wenn du Heimat in dir selbst gefunden hast, findest du auch an neuen Orten, wo auch immer das sein mag, wie auch immer das aussehen mag, einen festen Halt. Du nimmst deine Werte mit, deinen Glauben, deine Ãberzeugungen, deine Lieben, auch wenn sie nicht körperlich bei dir sind. Und so kannst du dich anlehnen wie an das Grab deiner Mutter â was für ein wunderbarer Gedanke. Du kannst dich geliebt wissen, dich selbst lieben, annehmen, wo immer du bist, als Zuhause, weil du weiÃt, wo deine Heimat ist.
Sehnsucht nach
MUT
Im Rahmen einer Ausstellung in Atlanta, Georgia/USA, waren die Porträts von zwanzig Frauen schwarzer Hautfarbe zu sehen, die den Mut bewiesen haben, für Gerechtigkeit und Freiheit einzutreten. Es sind ganz normale Frauen wie du und ich; nichts hat sie vorab irgendwie prädestiniert, einen solchen Mut an den Tag zu legen. Eine davon ist Rosa Parks, die vielen sicher noch aus den Schulbüchern in Erinnerung ist. An einem Abend im Jahr 1955, als sie müde auf dem Weg nach Hause war, weigerte sie sich, im Bus für einen weiÃen Mann aufzustehen. Der Busfahrer lieà sie daraufhin von der Polizei verhaften. Dieser Vorfall wurde zum Ausgangspunkt einer riesigen Bewegung für die Gleichberechtigung von Menschen aller Hautfarben in den USA. Es folgte ein 381 Tage andauernder Boykott der öffentlichen Busse, bis schlieÃlich 1956 die Rassentrennung in Bussen für illegal erklärt wurde.
Was schenkt Menschen in einer solchen Situation Mut? Oder wer?
Willy Brandt hatte den Mut, in Warschau im Gedenken an die Opfer des Ghettos niederzuknien â er wusste, wie viel Kritik ihm das einbringen würde. Da lässt ein deutscher Politiker sich nicht erpressen, als jemand ihm damit droht, dass eine Zeitung seine Homosexualität öffentlich machen könnte, sondern hat den Mut, offen vor die Kameras zu treten. Er ahnte, dass er Häme und Spott ernten könnte. Die Frau des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia (50) steht in ihrer Pekinger Wohnung unter Hausarrest. Keiner auÃer ihren direkten Angehörigen kann sie besuchen. Aber sie hat den Mut, gemeinsam mit ihrem Mann Menschenrechtsverletzungen in China anzuprangern â und bezahlt dafür mit ihrer Freiheit. Ich habe ungeheuren Respekt vor solchen Menschen, ob sie nun im Licht der Ãffentlichkeit stehen oder Mut im Alltag beweisen. Warum aber haben die einen Mut und die anderen nicht?
Christian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Instituts in Niedersachsen, hat in Studien gezeigt, dass Mut in der Erziehung verankert ist. Menschen, die gewaltfrei erzogen wurden, hatten etwa in der Nazidiktatur wesentlich mehr Zivilcourage, Juden zu verstecken, heimlich gegen das Regime zu opponieren, als Menschen, die in ihrer Kindheit Drill, Druck, Gewalt und eine Gehorsamsstruktur erlebt hatten. Christinnen und Christen in der DDR hatten den Mut, gegen alle Schikanen ihren Glauben zu leben und die Frage nach der Gerechtigkeit offen zu stellen, auch weil sie von einer anderen Freiheit wussten, von Gott, vor dem sie sich zu verantworten hatten.
Das hat mich beeindruckt, denn es zeigt, dass Mut im Kleinen wächst. Etwa, wenn ich es wage, bei der Schulelternversammlung eine Frage zu stellen, obwohl ich es nicht gewohnt bin, öffentlich zu reden. Oder der Mut, bei der Nachbarin nachzufragen, ob ich ihr helfen kann â ich höre ja, wie oft ihr Kind schreit â, obwohl ich damit eine
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