Sehnsucht nach Leben
Grenze überschreiten könnte. Es ist der Mut, im Supermarkt einzuschreiten, wenn ein Obdachloser vertrieben werden soll, weil er sich aufwärmen will. Es ist die Zivilcourage, bei âIkeaâ an der Kasse mit zehn Euro auszuhelfen und andere zu bitten, das ebenfalls zu tun, weil die Frau mit den drei kleinen Kindern ihr Essen offenbar nicht bezahlen kann. Oder einzuschreiten, wenn im Bus Menschen wegen ihres anderen Aussehens angepöbelt werden.
Manchmal wünschen wir uns schlicht Mut fürs Leben. Wir hätten gern mehr Mut, uns einzumischen, würden gern mehr wagen, entschlossener unsere Meinung sagen. Wir sehnen uns nach dem Mut, gegen ungerechte Verhältnisse aufzubegehren. Mut auch dafür, unser Leben zu ändern, noch einmal neu aufzubrechen, selbst wenn wir wissen, wir werden uns verächtliche, ja, feindselige Reaktionen einhandeln. Es geht auch um Lebensmut, etwa wenn wir schon alt sind. Das finde ich in den USA übrigens immer wieder faszinierend: Dort gibt es Menschen, die wahrhaftig sehr alt sind, sich aber keineswegs wie graue Mäuse kleiden und zurückziehen, sondern offenbar lebensfroh und bunt gekleidet ihr Leben voll auskosten.
Nein, wir sind nicht immer alle so mutig wie Willy Brandt oder Liu Xia, auch wenn wir es gern wären. An der Supermarktkasse sind wir einfach nur müde. Und manchmal fehlt uns sogar der Mut für unser eigenes Leben. Wir sind müde und erschöpft von der Erziehung der Kinder, dem Beruf, der Sorge um die Eltern, vom Einkaufen, von den Erledigungen und all den anderen Anforderungen, die der Alltag an uns stellt.
Mut kann bedeuten, hier einen Kreislauf zu durchbrechen. Zu fragen: Was hält mich eigentlich zurück? Warum bin ich so ängstlich? Oder muss ich abwägen und überlegen, ob ein bestimmtes Verhalten vielleicht übermütig ist, mich und andere gefährdet? Ja, die Vernunft kann uns auch manchmal davor zurückhalten, allzu mutig zu sein, weil Ãbermut zerstörerisch wirken kann.
Aber auch das erleben wir: dass aller Mut in sich zusammenbricht. Wir finden nicht die Kraft zur Veränderung, lassen unser Leben lieber, wie es ist. Wir schauen weg, statt hinzuschauen. Wir wollen nicht gesehen werden, bloà keine Aufmerksamkeit erregen. Wir gehen einmal mehr den so viel bequemeren Weg der Anpassung.
Aber wir wären so gern ganz anders ...
Auch ich war so manches Mal in meinem Leben alles andere als mutig. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, weil ich wusste, wie die Reaktionen ausfallen würden. Das war besonders bei strittigen Themen so, etwa wenn es um Homosexualität, Abtreibung oder Frauenrechte ging. Ich war mir bewusst: âWenn du das jetzt sagst, hagelt es massive Kritik.â Dann wieder war ich selbst erstaunt darüber, dass andere mutig fanden, was in meinen Augen gar nicht so mutig gewesen war. âNichts ist gut in Afghanistanâ â viele fanden diesen Satz in einer Predigt plötzlich mutig, als er so heftig kritisiert wurde. Mutig war er aber gar nicht gemeint. Und dann gab es Augenblicke, in denen ich Mut als Geschenk Gottes betrachtet habe. Den Mut etwa, zur Wahl als Landesbischöfin anzutreten. Ich habe lange hin und her überlegt. Am Ende sagte eine amerikanische Freundin mir: âYou can only stand for election if you can stand to lose it!â (âDu kannst nur zu einer Wahl antreten, wenn du es erträgst, sie zu verlieren.â) Das hat mir geholfen, denn ich erkannte: âFür dein Leben ist doch gar nichts verloren, wenn du verlierst.â
In der Bibel finden wir beides, Mut und Mutlosigkeit. Ich denke an die Geschichte der beiden Hebammen Schifra und Pua: âUnd der König von Ãgypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen die eine Schifra hieà und die andere Pua: Wenn ihr den hebräischen Frauen helft und bei der Geburt seht, dass es ein Sohn ist, so tötet ihn; istâs aber eine Tochter, so lasst sie leben. Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ãgypten ihnen gesagt hatte, sondern lieÃen die Kinder leben. Da rief der König von Ãgypten die Hebammen und sprach zu ihnen: Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst? Die Hebammen antworteten dem Pharao: Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftige Frauen. Ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren. Darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und das Volk mehrte sich und wurde
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