Sehnsucht nach Leben
Munitionsdepot, in dem Flüchtlinge aus OstpreuÃen, Pommern und Schlesien angesiedelt wurden. Später kamen auch Italiener, Jugoslawen, Griechen und Türken. Ein bunt zusammengewürfeltes Gefüge ohne rechten Mittelpunkt.
Dabei war niemand in meiner Familie je in einer Weise revanchistisch, wie es Heimatvertriebenen oft unterstellt wird. Sie alle haben letzten Endes den Verlust der Heimat als Preis für die Verbrechen der Nazidiktatur gesehen. Zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag habe ich meine Mutter schlieÃlich 1997 eingeladen, mit mir nach Pommern zu fahren. Offen gestanden war ich erstaunt, wie nah das war! Sie war seit 1945 nicht dort gewesen, aber wir fanden alles wieder: das Wohnhaus, das Gutshaus, die Wälder. Am meisten rührte sie irgendwie, dass die Bäume noch da waren; sie hatten all das Grauen überlebt und wirkten vertraut wie in ihrer Kindheit. Die Polen, die nun im Haus meiner GroÃeltern wohnten, haben uns sehr, sehr freundlich eingeladen hereinzukommen. Und meine Mutter entdeckte, dass der Kachelofen, an dem sie als Kind gesessen hatte, noch genau so dort stand wie damals. Als wir zurückfuhren, sagte sie: âDas war schön, aber Heimat ist jetzt woanders.â
Mich hat das an Klaus von Bismarck erinnert, den ich als Generalsekretärin des Kirchentages noch kennenlernen durfte. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig sagte er 1954 in einer bewegenden Rede: âMein Herz sucht in diesem Augenblick die Wiesen, die Felder und die Bäume in meiner jetzt polnisch verwalteten Heimat in Pommern ... Es ist meine persönliche Meinung â die einige von Ihnen vielleicht nicht übernehmen können â, dass wir vor Gott kein Recht darauf haben, das wiederzuerhalten, was er uns genommen hat.â Ich habe diese Rede auf einem Tonbandmitschnitt gehört und sie hat mich zu Tränen gerührt. Hier sprach jemand, der seine Heimat, die Heimat seiner Familie verloren hatte, und doch konnte er sagen: âEs ist jetzt die Heimat anderer Menschen.â Das ist GröÃe! Damals gab es einen Skandal, öffentliche Kritik, Auseinandersetzungen â einer seiner Brüder war sogar noch in Kriegsgefangenschaft. Als wir ihn 1998 in Hamburg beerdigten, war neben seinen Brüdern auch der polnische Priester aus seinem Heimatort anwesend und warf pommersche Erde in sein Grab. Ein bewegendes Zeichen von Versöhnung.
So kann Heimat viel Vertrautes in uns wachrufen. Erinnerungen an die Kindheit. An Orte, an Menschen, sogar an Bäume, die uns geprägt haben. Ja, ich weiÃ. Es gibt auch furchtbare Kindheitserfahrungen und albtraumartige Heimaterinnerungen. Sie entfremden uns von Erfahrungen, die uns prägen. Wir versuchen, sie zu vergessen, zu verdrängen. Da gibt es kein Heimatidyll, das prächtig leuchtet, sondern nur graue Schatten. So hat die Schriftstellerin Herta Müller einmal auf die Frage, was ihr Heimat bedeute, gesagt: âEs gibt nichts Fremderes als eine Heimat, in der man sich seines Lebens nicht sicher sein kann.â [7] Christopher Schmidt schreibt dazu: âAls sie 1987 mit ihrem damaligen Mann Richard Wagner nach Deutschland ausreist und in Berlin mit einem Laufzettel von Behörde zu Behörde geschickt wird, sagt ihr ein Beamter, sie wisse aber schon, dass man nur eine Heimat haben könne. Eine Heimat, antwortet Herta Müller, nein, eine Heimat brauche sie nicht. Was sie brauchte, war ein Ort, an dem sie ohne Angst leben und schreiben konnte.â [8]
Von vielen Flüchtlingen ist Ãhnliches zu hören: Nur weg aus der Heimat, an einen Ort, an dem es sich sicher leben lässt. Heraus aus der Angst um mein Leben, um das meiner Kinder. Ein Transitvisum als letzte Chance. Die Hoffnung, irgendwo sicher leben zu können. Es gibt unendlich viele Geschichten von Menschen, die verzweifelt versuchen mit Booten, Europa zu erreichen. Nur weg aus Afrika, aus Elend und Perspektivlosigkeit.
Und doch gibt es neben dieser Sehnsucht nach einer neuen Heimat auch diese Sehnsucht zurück. Warum besuchen so viele Flüchtlinge noch nach so vielen Jahrzehnten das ehemalige Pommern, Schlesien, OstpreuÃen, Danzig? Weil sie ihre Wurzeln suchen! Weil Menschen Zugehörigkeit brauchen. Vor einigen Jahren habe ich in Südafrika erlebt, wie eine schwarze Nordamerikanerin das Gefühl hatte, hier fände sie ihre Wurzeln, da sie sich als Afroamerikanerin sah. Die Afrikaner hingegen sahen sie schlicht
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