Sehnsucht nach Leben

gesehen hat. Wie sie dort stehen, die Angeklagten. Die Gürtel werden ihnen genommen, damit die Hosen rutschen und sie einen möglichst schäbigen Anblick bieten. Und Nazi-Richter Roland Freisler brüllt geifernd auf sie ein. Aber Helmuth James Graf von Moltke blickt auf diese Tage zurück und schreibt: „Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, dass das hysterisch klingt: Ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: Der ganze Saal hätte brüllen können wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht ...“
    Da zeigt sich in aller Schwäche Glaubenskraft im Angesicht all der Mächte und Gewalten, die so selbstgewiss sind! Ein solcher Widerstandsgeist gegen den Zeitgeist zeigt wahrhaftig, wie Torheit zu Weisheit werden kann!
    Ich denke an die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Diese kleine, zerbrechliche Frau stellt seit mehr als zwanzig Jahren offenbar eine derartige Bedrohung für die Militärdiktatur in Myanmar dar, dass sie ständig unter Hausarrest steht. Sie hat aber einen festen Platz in den Herzen der Menschen in aller Welt und im Gedächtnis der Menschheit, weil ihre innere Kraft stärker ist als ein bis auf die Zähne bewaffnetes korruptes Regime.
    Beide Beispiele zeigen, wie eine innere Haltung des Friedens auch auf politischer Ebene wirken kann.
    Zuallererst aber wird es darauf ankommen, den Frieden in kleinen Schritten zu finden und zu fördern. In einem ersten Schritt geht es darum, dass ich Frieden mit mir selbst und mit meinem Leben schließe. Es ist entsetzlich, wie unzufrieden – also ohne Frieden mit sich – viele Menschen wirken. Dabei hätten sie so viel Gelegenheit dazu. Warum geht es dir schlecht, was bringt dich zum Nörgeln, was lässt denn deine Mundwinkel so hinuntersinken? Das sind Fragen, die wir uns alle immer wieder stellen sollten. Frieden strahlt von innen heraus. Die Sehnsucht nach Frieden kann ein Anfang sein. Finde ich mich einfach nur ab, quäle ich mich durch jeden Tag – oder sage ich Ja zu meinem Leben, so wie es ist? Und wenn nicht: Was kann ich wie ändern?
    Die zweite Stufe ist die des Friedens mit anderen. Wie oft lassen Menschen sich von Hass, Neid, Abneigung, Feindschaft zerfressen, was sich sowohl auf sie selbst zerstörerisch auswirkt als auch auf eine Gemeinschaft. Wenn ich Sehnsucht nach Frieden empfinde, kann mir das den Mut geben, auf einen anderen Menschen zuzugehen und zu sagen: „Du hast mich verletzt, aber ich möchte mit dir neu anfangen.“ Das zeigt innere Größe. Die Kraft, die Vergebung entfalten kann, ist ungeheuer groß. Ich erinnere mich an ein Mittagessen, zu dem ich eine Frau eingeladen hatte, mit der ich Jahre zuvor im Unfrieden auseinandergegangen war. Wir waren letzten Endes beide verletzt, aber ich war Auslöserin und verantwortlich für den Konflikt. Das Ganze belastete mich schon lange und so schickte ich ihr eines Tages eine E-Mail und lud sie zum Essen ein. Sie sagte zu. Beim Essen konnten wir die Differenzen zwar nicht aus der Welt schaffen, aber wir merkten auch, wie viel uns verbindet und dass wir uns bei allen Meinungsverschiedenheiten doch respektieren. Beim Abschied umarmten wir uns mit Tränen in den Augen. Unsere Beziehung wird nie mehr so sein, wie sie früher einmal war. Aber wir haben unseren Frieden miteinander geschlossen und das wirkt im wahrsten Sinne des Wortes ungeheuer befreiend.
    Ja, und die letzte Stufe ist in der Konsequenz dann die Friedensfrage in der Gesellschaft. Und ich bin überzeugt, dass auch hier Gottes Geist wirkt. Oder wie ein englischer Buchtitel einmal sagte: „She flies beyond“ [16] , was wohl so viel heißen soll wie: Sie – die Taube – fliegt noch wesentlich weiter, als wir uns überhaupt vorstellen können ...
Sehnsucht nach einem
ENGEL

    In einem Gespräch in den USA sagte mir ein Deutscher: „Stellen Sie sich mal vor, achtzig Prozent der Amerikaner glauben an Engel!“ Es klang ein bisschen abschätzig, nach dem Motto: „So ein Unfug!“ Aber auch rund jeder zweite Deutsche glaubt an die Existenz von Engeln. Im Interesse an Engeln zeigt sich meines Erachtens die Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung des Glaubens. Die Menschen sehnen sich offenbar danach, Glauben nicht nur