Sehnsucht nach Leben
Himmel auf Erden schaffen. So zeichnet Luther ein bis heute realistisches Menschen- und Weltbild. Menschen bleiben tatsächlich auf grausame, auf traurige Weise ungeborgen und unbehaust.
Also muss Gott für uns streiten. Ohnmachtserfahrung und Gottvertrauen gehören für Luther ganz eng zusammen. Wir singen: âUnd wenn die Welt voll Teufel wärâ.â Sie ist eben nicht voll Teufel, im tiefsten Sinne nicht. Im tiefsten Sinne ist es Gottes Welt, Gottes hilfreiche Macht können wir erfahren. Der âFürst dieser Weltâ â das Böse also, das, was sich gegen Gott stellt â kann uns letzten Endes nichts anhaben. Luther stellt neben die Ohnmachtserfahrung entschieden die Glaubenserfahrung. Und diese Glaubenserfahrung ist nun gerade in dem erfahrbar, der eben nicht durch Nachgeben oder Verharmlosen, sondern durch seine Schwäche, durch seine Aufopferung den Kreislauf der Gewalt und Gegengewalt durchbricht. âFragst du, wer der ist? Er heiÃt Jesus Christ.â Der, der dem Teufel, dem Bösen, wie wir sagen, Paroli bietet, ist der sterbende Mann am Kreuz. Das ist das Kind, das in einem Stall zur Welt kommt. In Christus wird der Kreislauf des Bösen durchbrochen. Dieser Widerspruch treibt Christinnen und Christen immer wieder neu an. Er motiviert sie, auch trotz der Ohnmachtsgefühle aktiv zu werden. Bringt Christinnen und Christen in Palästina dazu, trotz aller Steine und Geschosse von Frieden zu reden. Bringt eine Mutter dazu, auf der Plaza de Mayo zu demonstrieren. Ermutigt christliche Gemeinden in Deutschland, sich an die Seite der jüdischen Gemeinden zu stellen. Lässt sie dafür eintreten, dass Muslime ihren Glauben in unserem Land frei leben können. Gibt ihnen Widerstandskraft gegen all die Häme, die âWeltverbesserernâ entgegenschlägt.
Heute ist dieses Lied für mich nicht länger ein Trutz- oder Protestlied, sondern ein Lied des Trostes, das von der Sehnsucht nach Geborgenheit handelt. Es stellt eben nicht die böse Welt den guten Christen gegenüber, sondern beschreibt reale Erfahrungen, die jeder von uns in seinem Leben macht. Das Gute und das Böse kämpfen in unserer Welt tatsächlich gegeneinander, und wir werden MaÃstäbe aufstellen und mit aller Kraft für Gerechtigkeit, für Frieden, für Nachhaltigkeit eintreten müssen. Aber dieser Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel findet auch in jedem Einzelnen statt. Luther kennt die Anfechtungen, denen wir in unserem eigenen Leben begegnen, nur allzu gut. Etwa, wenn Menschen denken: Soll uns doch egal sein, was in Afrika passiert. Was gehtâs mich an, wenn da jemand verhungert oder stirbt? Meine Steuern sollen doch nicht zum Fenster rausgeschleudert werden . Ja, mit dem Egoismus, mit der Selbstsucht, mit dem Bösen hat jeder Einzelne von uns auf seine Weise zu kämpfen.
Dieses Lied ist aber auch insofern ein Trostlied, dass es Gott als die feste Burg besingt, die uns Geborgenheit erfahren lässt wie im Mutterleib. Oder wie Psalm 46 sagt: Gott ist unser Schutz, unsere Zuflucht â was Luther in die Schutzburg umgedichtet hat. Gott als unser Refugium, von dem aus wir Stärke und Kraft für das Leben erfahren. Hier erfahren wir die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen. Das ist die Freiheit des Wortes, des kleinen Wortes, der Heiligen Schrift, die das Böse fällen kann. Der Sinn meines Lebens, die Liebe Gottes, von dem kann mich nichts scheiden, das schreibt auch Paulus im Römerbrief. Wenn es also in der vierten Strophe heiÃt: âNehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie habenâs keinâ Gewinnâ, dann ist das keine Missachtung derer, die ich liebe, oder der Ziele, die mir etwas bedeuten. Vielmehr geht es darum: Selbst wenn mir alles genommen wird â das, woran mein Herz hängt, was mir alles bedeutet, meine Liebe, mein Besitz â, dann ist dennoch der Sinn meines Lebens nicht verloren, weil Gott diesem Leben Sinn gibt. Nicht das, was ich tue, und das, was ich habe, sondern Gott allein gibt meinem Leben Sinn. Das ist die zentrale Botschaft der Rechtfertigungslehre.
Ja, ein Trostlied. Ein Lied, das nicht mit Pathos daherkommt, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern das Vertrauen auf Gott thematisiert, dafür begeistern, ja, dazu verlocken will.
Zwei Bögen will ich dazu noch schlagen. Der erste führt mich zur Weltausstellung 2000 in Hannover.
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