Sehnsucht nach Leben
dichtete, es ist uns doch etwas unbehaglich geworden. Deutsch-national wurde es vereinnahmt; der deutsche Protestantismus hat Luther und die eigene Existenz heroisiert. Vor allem die Kampfmetaphorik hat manchem die Stimme versagen lassen, wenn es nach jener Zeit des Krieges angestimmt wurde. Niemand wollte mehr Hymnen, die davon singen, dass Gut, Weib, Ehrâ und Kind dahinfahren sollen; so viele Menschen hatten schlieÃlich alles verloren. Die Deutschen waren nach 1945 der Kampfrhetorik müde; sie waren es leid, so etwas zu singen.
So bin ich mit der Ãberzeugung aufgewachsen, dass dieses Lied lieber nicht zu singen wäre. 1985 aber reiste ich nach Argentinien, um dort an einer Sitzung des Zentralausschusses des Ãkumenischen Rates der Kirchen teilzunehmen. Die Evangelische Kirche in Argentinien war in der Zeit des Militärregimes durch so manche Anfechtung gegangen. Die Militärdiktatur war durchaus von vielen unterstützt worden; andere hatten sich aber tapfer unter die Dissidenten eingereiht. Am bekanntesten sind heute noch die tapferen Mütter auf der Plaza de Mayo, die seit 1977 das Verschwinden ihrer Kinder öffentlich machen. Sie forderten die Militärdiktatur heraus, indem sie Woche für Woche eine halbe Stunde stumm den Platz umrundeten, in den Händen Banner und Plakate mit den Namen und Bildern ihrer Kinder. Ihr Kennzeichen ist noch heute das aus Trauer und Protest getragene weiÃe Kopftuch, das zum Symbol ihres Widerstandes und Kampfes für Gerechtigkeit wurde. Wir begleiteten sie an einem der Nachmittage und ich war zutiefst berührt.
SchlieÃlich fand ich mich in einer Halle mit mehreren Tausend Menschen wieder, die am Ende der Versammlung aufstanden und laut und schmetternd sangen: âEin feste Burg ist unser Gott.â Mir hat es damals fast die Sprache verschlagen. Passt das denn zusammen? Ein solches Schutz- und Trutz-Lied? Ein solches Kampflied von Wehr und Waffen, von der Vernichtung des Feindes und von einem Gott, der für uns streitet?
Ich habe mich dem Lied in der Vergangenheit wieder angenähert und es an Reformationstagen in Gottesdiensten auch singen lassen. Was hat Luther wohl gemeint? Ich denke, dass wir uns zunächst klarmachen müssen, dass dieses Lied reale Ohnmachtserfahrungen besingt. Menschen erleben, dass sie Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Gelingen und Versagen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ohnmächtig gegenüberstehen. Der Angst vor einer Krebserkrankung beispielsweise. Vor dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen. Vor der Erfahrung von Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit. Oder dieses tiefe Ohnmachtsgefühl, wenn wir sehen, dass in unserem Land auch heute jüdische Mahnmale geschändet werden, Jüdinnen und Juden sich bedroht fühlen müssen. Was für ein Ohnmachtsgefühl! Ich habe schon Briefe erhalten, in denen Menschen mich übel beschimpft haben, weil ich sagte, dass wir dafür dankbar sein können, dass es bei uns wieder jüdische Gemeinden gibt. Viel zu oft muss ich erleben, dass es in Deutschland für Menschen anderen Glaubens, anderer Herkunft oder anderer Hautfarbe keine Geborgenheit gibt, und dann fühle auch ich mich ohnmächtig, schäme mich oder bin erschrocken darüber, dass alles menschliche Streben und Erklären und alle Vernunft augenscheinlich wenig bewirken.
Oder blicken wir in diesen Tagen auf Israel. Welche Enttäuschung, welche Ohnmacht. Ein Friedensprozess, den viele Menschen intensiv begleitet haben. Auf allen Seiten wohlgemerkt! Palästinenser und Israelis, Juden, Christen und Muslime. Ja, es betrifft uns Not, und der âaltböse Feindâ, er meint es durchaus ernst. Macht und Grausamkeit zeichnen das Böse aus. Ich bin überzeugt, Luther ist hier ganz realistisch. Er würde wahrscheinlich sagen, dass wir durchaus Teufelserfahrungen machen; wir würden heute eher formulieren: Das Böse ist existent.
Ich werde oft gefragt: âWie denn? Gibt es Gott etwa nicht?â Ja, aber die Welt ist trotzdem angefüllt von all dem Bösen und immer wieder sind wir mit unserer Ohnmacht konfrontiert. Wir leben nicht in einer erlösten Welt, sondern in der Welt nach der Vertreibung aus dem Paradies. âMit unserer Macht ist nichts getan.â Nein, wir sind nicht mächtig. Wir können strampeln und streiten und unser Bestes geben, aber mit all unserer Leistung und unserer Macht werden wir dennoch keinen
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