Sehnsucht nach Leben
viele, die sich nach einer gescheiterten Ehe oder Beziehung bewusst dafür entscheiden, allein zu leben. Oder das von vornherein als den für sie geeigneten Lebensentwurf sehen. Als Martin Luther sagte, die Ehe sei keine schlechtere Lebensform, wollte er das Alleinleben ja nicht abwerten, sondern lediglich sagen, es sei nicht prinzipiell eine vor Gott in irgendeiner Weise bessere Lebensform. Mir ist wichtig, dass wir an dieser Stelle keine Hierarchien von âbesseremâ oder âschlechteremâ Leben aufstellen! In der Zeit, die ich in den USA verbracht habe, konnte ich das erleben. Die Familiensituation war dort Politikum und spielte im Wahlkampf eine entscheidende Rolle. Etwa: âIch bin ein treuer Ehemann und ein guter Familienvaterâ â das ist eine Aussage über eine Lebensform, aber sie sagt doch nichts über politische Ziele. Und als zwei Frauen für das Gouverneursamt in einem Bundesstaat kandidierten, hieà es auf einmal, die eine sei besser geeignet, weil sie verheiratet sei und Kinder habe. Ihre politischen Optionen traten völlig in den Hintergrund ...
Solche Wertungen verletzen Menschen, die allein leben, sehr. Fast müsste nun Luther für die andere Seite argumentieren: Es kann auch gottgefällig sein, allein zu leben! Luther wollte gerade zeigen, dass die Lebensform nicht entscheidend ist für den Glauben. Ganz unabhängig davon sehnt sich doch jeder Mensch nach Liebe und Zuneigung, ob er nun in einer Beziehung lebt oder als Single. âEs ist nicht gut, dass der Mensch allein seiâ, das ist eine alte biblische Weisheit. Gott spürt, so berichtet es die Schöpfungsgeschichte, dass der Mensch nach Geselligkeit verlangt, dass er darauf angelegt ist, sein Leben mit anderen zu teilen. Auch das ist ja Teil der Gottebenbildlichkeit, denn Gott selbst ist ebenfalls auf Beziehung aus, als er den Menschen schafft. Gott wie Mensch sind also Beziehungswesen. Und Liebe kann in sehr verschiedenen Konstellationen gelebt werden.
Dabei ist von Anfang an klar: Die vollkommene Liebe gibt es nicht. Nicht zwischen Mann und Frau, das zeigen schon Adam und Eva. Nicht zwischen Geschwistern, das geht schon aus der Erzählung über Kain und Abel oder gar aus der von den Kindern Jakobs hervor. Und auch nicht zwischen Eltern und Kindern, das können wir beispielsweise am Verhältnis von Isaak und Rebekka zu Jakob und Esau ablesen. All die alttestamentlichen Geschichten, in denen es um Beziehungen geht, sind einerseits von Liebe geprägt, andererseits aber voller Spannungen. Es ist mir wichtig, das an dieser Stelle zu erwähnen, um deutlich zu machen, dass die Bibel eben keine heile Welt zeichnet, sondern eine realistische.
Und die allgegenwärtigen Bilder, die heute von der âgroÃen Liebeâ gezeichnet werden, stellen auch eine groÃe Belastung dar. Die Hochzeit muss unbedingt der schönste Tag des Jahres werden; endlos lang sind die Vorbereitungen, hoch die finanziellen Investitionen, alles soll perfekt sein. Ich bin seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ordinierte Pastorin und habe das Gefühl, der Druck, dass alles âgelingtâ, wird immer gröÃer. Das macht eine kirchliche Trauung zur Herausforderung! Wenn dann die eine oder andere Kleinigkeit nicht perfekt ist, wird gleich alles infrage gestellt. Wie traurig. Es soll doch einfach ein schöner Tag sein und keine Inszenierung! Hinterher fragt sich manches Paar, ob es nicht ganz anders hätte sein können. Dann kommt der Alltag, und beide müssen feststellen, dass der Ehepartner nicht ständig die alleinige Quelle ihres Glücks ist; ja, er hat Defizite und sie hat Macken. Und schlieÃlich wird gleich die Liebe infrage gestellt. Ich finde es ungemein traurig, wenn Liebe unter Perfektionsdruck steht!
Und das gilt nicht nur für Paare, sondern auch für alle anderen Beziehungen: Meine Kinder entwickeln sich nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe â vielleicht auch einfach nur so, wie sie sind â, und schon steht für manche die Liebe infrage.
Der Apostel Paulus spricht ebenfalls in eindrücklichen Worten von der Liebe:
Das Hohelied der Liebe
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte,
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