Sehnsucht nach Leben
Menschen â welch eine Erfahrung! Und wir haben sie alle gemacht ...
Diese Sehnsucht nach Geborgenheit wird uns ein Leben lang nicht loslassen. Wir möchten irgendwo zugehörig sein, wünschen uns dieses Gefühl, gehalten zu sein, ohne uns erklären zu müssen, ohne Rückfragen, einfach sein können, ohne etwas leisten zu müssen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich meine jüngste Tochter zum letzten Mal stillte. Mir war bewusst, es würde nach den drei älteren Geschwistern das letzte Mal sein, dass ich diese Erfahrung machen konnte. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird nie wieder so intensiv sein, so tiefgehend Gespräche und Austausch später auch sein mögen. Keine Angst, ich will das Muttersein nicht idealisieren. Aber die Situation des Stillens ist nach der Schwangerschaft eine weitere Erfahrung tiefer Geborgenheit. Dass Stillen auch etwas mit Stille zu tun hat, musste ich erst lernen. Meine erste Tochter kam noch während meines Studiums zur Welt, und damals fand ich diesen Gedanken albern, dass es einen Bezug zwischen Stille und Stillen geben könnte. Es war die Zeit, in der fast provokativ immer und überall â auch an öffentlichen Orten â gestillt wurde (als ich zu einem Besuch in der DDR war, habe ich damit ein wahres Ãrgernis verursacht). Wie kostbar aber diese besondere Phase ist und dass der alte Ausspruch: âStillzeit ist stille Zeitâ nicht von gestern ist, sondern noch hochaktuell, begriff ich erst mit der Zeit und konnte es schlieÃlich zehn Jahre später bei der Geburt des letzten Kindes bewusst wahrnehmen. Schon der Psalmbeter weià von dieser Dimension der Geborgenheit und beschreibt sie mit den Worten: âDu hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du lieÃest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutterâ (Psalm 22,10). SchlieÃlich aber werden sich Mutter wie Kind langsam aus dieser so intensiven Geborgenheitsbeziehung lösen müssen ...
Geborgenheit meint ein Wohlgefühl, das nicht durch Sicherheit hervorgerufen wird, sondern die Erfahrung von Wärme, innerem Frieden, Ruhe und Nähe. Als ich versucht habe, einer Amerikanerin zu erklären, worüber ich in diesen Tagen schreibe, habe ich gemerkt: Es gibt im Englischen eigentlich gar keinen angemessenen Begriff dafür. Und so fand ich es auch gar nicht verwunderlich, dass der Deutsche Sprachrat und das Goethe-Institut âGeborgenheitâ 2004 im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs zum zweitschönsten Wort der deutschen Sprache kürten. Eine Frau aus der Slowakei hatte den Begriff vorgeschlagen, weil er in ihrer Sprache nicht vorkomme ...
Der Begriff âGeborgenheitâ scheint auf den ersten Blick vielleicht etwas romantisch oder emotional oder auch altmodisch. Auf dramatische und höchst aktuelle Weise wurde jedoch deutlich, was âbergenâ bzw. âgeborgen werdenâ bedeutet, als chilenische Bergleute im Sommer 2010 in einem Schacht tief unter der Erde eingeschlossen waren. Sie überlebten das Unglück, hausten nun aber weit unter der Erde. Zum Glück gab es nach zwei Wochen Kontakt zur AuÃenwelt. 69 Tage waren die 33 Männer eingeschlossen. Und endlich, am 12. und 13. Oktober, wurden sie geborgen, einer nach dem anderen. Eine Rettungskapsel machte die Bergung möglich. Fernsehsender aus der ganzen Welt berichteten über dieses Ereignis. Menschen fieberten mit, beteten, hatten Angst, und am Ende brach sich unter Tränen überschwänglicher Jubel Bahn. Ich denke, dass deshalb so viele Menschen rund um den Globus diese Ereignisse verfolgt haben, weil die Sehnsucht, jemanden zu bergen oder selbst geborgen zu sein, so groà ist. Und selbst wenn solch wundersame Bergung nicht gelingt, wollen wir doch die Toten bergen â damit sie einen Ort finden, an dem sie Ruhe finden, wir sie betrauern können.
Aber was passiert, wenn wir dieses Gefühl verlieren, wenn wir uns ungeborgen fühlen, unbehaust? Es gibt diese Erfahrung, dass wir als Erwachsene auf einmal ein tiefes Gefühl von Verlorenheit erleben. Da entsteht eine Sehnsucht nach einem geschützten Raum, nach Zugehörigkeit. Martin Luther hat diese Sehnsucht vor fast 500 Jahren in seinem Lied âEin feste Burg ist unser Gottâ festgehalten. âDu liebe Zeit, können wir da heute wirklich unbefangen einstimmen?â, mögen Sie denken. In der Tat, dieses Lied, das Luther 1529 nach Psalm 46
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