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Sehnsucht nach Leben

Sehnsucht nach Leben

Titel: Sehnsucht nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaeßmann
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auch, dass der Alltag mich überfordert, dass ich mein inneres Gleichgewicht verliere, die Mitte nicht mehr finde und den roten Faden meines Lebens zu verlieren drohe.
    In der Bibel sind Zeiten der Stille immer auch Zeiten der Entscheidung und der Gotteserfahrung. Ich denke an Jesus, der vierzig Tage in die Wüste geht und mit seinen schlimmsten Ängsten und vielleicht auch Wünschen konfrontiert wird. Als „Teufel“ werden diese Versuchungen beschrieben, Möglichkeiten, die in ihm gären: die Welt beherrschen, mächtig sein, alles besitzen. Wer von uns hätte nicht schon solche Stimmen in sich gehört: „Du kannst alles. Du lässt ,gut‘ und ‚böse‘ hinter dir und siehst ab jetzt nur noch deinen Vorteil!“ Ja, auch solche Versuchungen können laut werden, wenn es still wird. Wer dann aber die Konfrontation wagt und sich für einen geraden, klaren Weg entscheidet, wird ihn mit großer Kraft gehen können. So wie Jesus, der seiner Berufung nach der Zeit in der Wüste nicht mehr ausweicht. Der in der Wüste die Stille sucht, bevor er seinen Weg kennt und predigend durchs Land zieht. Nach dieser Zeit ist er sich klar darüber, was sein Weg ist. Und er hat die Kraft dafür gefunden. Und diese Kraft trägt ihn, auch als er wahrnimmt, dass es ein Weg in den Tod ist.
    Ã„hnlich wird es später im Garten Gethsemane sein. Dort ist Jesus von einer traurigen Stille der Einsamkeit umgeben. Seine Freunde nehmen an seiner Situation nicht so Anteil, wie sie vorgeben und wie sie es wohl auch wollen. Stille nämlich ist aufmerksam, sensibel. Sie aber schlafen ein. So ist Jesus einsam und allein mit den Fragen, den Gedanken, die ihn umtreiben. Eine solche Stille ist schwer zu ertragen, denn sie trägt die Spur der Enttäuschung in sich: „Ich bin allein. Letzten Endes muss ich ohne andere meinen Weg finden.“ Und Jesus geht ihn bis ans Kreuz ...
    Nun kann sich nicht jeder Mensch für längere Zeit ins Kloster oder ans Meer oder in die Wüste zurückziehen. Wer keine solche Möglichkeit hat, kann Stille durchaus als Unterbrechung des Alltags gestalten. Sehr eindrücklich und anrührend habe ich das einmal in Rio de Janeiro in Form einer öffentlichen Schweigeminute wahrgenommen. Diese tosende, brodelnde, lärmende Stadt hielt nach der Ermordung mehrerer Kinder als Protest gegen die Gewalt drei Minuten still. Der Straßenverkehr, die Passanten, die Börse – alles stand still. Eine geradezu ergreifende Erfahrung! Und offenbar ansteckend, denn niemand wollte die Stille brechen. Drei Minuten können da sehr lang sein. Und dann ging es langsam wieder in den Alltag über. Aber er war verändert, weil die gemeinsame Erfahrung der Stille so überwältigend gewesen war.
    Im Kleinen können wir das auch in den Alltag integrieren. Früher hielten alle kurz inne, wenn die Turmuhr im Dorf zwölf schlug. Es war Zeit, sich an Gottes Existenz zu erinnern, Zeit für ein Gebet. Heute wird ein solcher Rhythmus wiederentdeckt. Wenn beispielsweise im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover um zwölf Uhr eine Glocke schlägt, werden alle Sitzungen für eine kurze Zeit der Stille und ein Gebet unterbrochen. Ähnliches können wir zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Universität, im Krankenhaus auch tun: kurz innehalten für eine stille Minute, ein Gebet. So richten wir unser Leben regelmäßig neu aus auf Gott, dem wir unser Leben verdanken. Solche Unterbrechungen können heilsam sein. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen aus einem Erleben von Stille gestärkt für ihr Leben hervorgehen.
    Stille sollte aber nicht zur Weltflucht werden, zum Zwang, zur Lebensnorm. Mich bedrückt, wenn Menschen ein Leben lang schweigen sollen und es heißt, dies sei eine gottesfürchtige Haltung. Sicher, Schweigegelübde sind Teil mancher klösterlicher Tradition. Aber mir ist wichtig, dass Stille etwas Befreiendes mit sich bringt und nicht bedrückend wirkt. Wie viel Stille wurde erzwungen in Klöstern und Kinderheimen, Gefangenenlagern und Familien, manches Mal unter Drohungen! Der preisgekrönte Kinofilm „Das weiße Band“ hat das auf bedrückende Weise dargestellt. Schweigen wurde als Teil eines repressiven Erziehungssystems erzwungen. Ja, Stille kann guttun. Aber Gott hat uns doch auch die Töne geschenkt, die Musik, das Singen, die Sprache, das Zwitschern der

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