Sehnsucht nach Leben
Hamburg Stille finden? Da ist in der Tat Weggehen angesagt â in einen Wald, fernab von Menschen, auf ein Feld, ans Meer. Eine Kirche kann ebenfalls eine solche Stille bieten. Sie ist ein besonderer Raum, geschaffen für Gespräche mit mir selbst und mit Gott. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie ein solcher Raum Stille geradezu gebieten kann: Du betrittst eine erhabene Kirche und wirst unaufgefordert still. Selbst Touristen scheinen so manches Mal zu spüren: Es tut der Seele gut, den Alltag auf diese Weise zu unterbrechen.
Als ich nach fünfundzwanzig Berufsjahren und parallelem Einsatz für vier Töchter plötzlich aus meinem gewohnten Leben herauskatapultiert wurde, habe ich einige Zeit gebraucht, um die Stille nicht nur als im Tagesplan verordnet anzusehen. Stille wurde zu einer ganz eigenen Zeit. Sie war auf einmal eine kostbare Unterbrechung des Alltags. Nein, es ging nicht um Regeneration, Konzentration oder religiöse Orientierung. Es war schlicht gut, dass es still war. Einfach nur Stille wahrnehmen können und nichts erledigen müssen. Einen Baum betrachten, ohne das in einer Predigt zu verwerten. Den Himmel anschauen und nicht an einen Vortrag denken. Keine Stille, die schon wieder unter dem Druck stand, eine besondere Zeit sein zu müssen. Stille in mir finden. Zur Ruhe kommen. Ich denke, ich hatte schon lange Sehnsucht danach, ohne dass ich das hätte in Worte fassen können.
Für manche Menschen ist es wichtig, für solche Erfahrungen einen besonderen Platz zu finden. Das Kloster ist in der Tat auch heute ein sensibler Ort, der sich über Jahrhunderte hinweg für das Erleben von Stille anbietet. Da kann ich hinter Klostermauern etwas finden, das die Welt mir so nicht bietet: Konzentration auf mich selbst. Eintauchen in die Gebetserfahrung der Jahrhunderte. Erspüren, dass dieser Ort für die Stille und innere Einkehr gebaut wurde. Ein Kloster wurde gegründet, um Menschen Rückzugserfahrungen zu ermöglichen, damit sie sich selbst loslassen können und Gott die Ehre geben. Martin Luther hat aber auch sehr deutlich gesagt, dass das Kloster nicht ein Ort für ein besseres Leben ist. Vor Gott ist auch das Leben im Alltag all der Geräusche ein Leben in Würde, mit Sinn. Keines der beiden Lebenskonzepte ist besser als das andere, da gibt es für Luther keine Wertigkeit. Aber die Klostererfahrung kann dennoch überraschen, weil sie mich aus dem Alltag herausreiÃt und für eine Begegnung mit mir selbst und mit Gott öffnet.
Wenn ich all die Geräusche meines alltäglichen Lebens â den Lärm von Verkehr, Fernsehen, Computer, Mitbewohner, Musik â zurückgelassen habe, finde ich aber noch lange keine Stille. Weil erst dann in mir laut wird, was ich zumeist unterdrücke: die Gedanken, die Töne, die Worte, die im Alltag ungesagt bleiben. Wenn es um mich herum still wird, kann es in mir drunter und drüber gehen. Dann höre ich nicht mehr vertraute Stimmen, die meiner Lieben, die meiner Kollegen, auch nicht die meiner Neider oder Feinde. Es werden womöglich Stimmen laut, die ich gar nicht hören will. Mahnende Stimmen, die mir sagen, dass ich etwas ändern muss. Die Stimme der Vernunft, die mich zurechtweist und zur Verantwortung ruft. Stimmen aus der Vergangenheit, die über Fehler und Schmerz klagen. Die Stimme der Liebe, die ich verdränge. Oder die Stimme der Angst, die an mir nagt. Diese Stimme, die sagt: Du hast versagt, schau deinen Fehlern ins Gesicht! Letzten Endes braucht es Mut, Stille zu wagen, in das eigene Ich einzutauchen und all die Stimmen in meinem Inneren zuzulassen. Wer die inneren Stimmen hören will, muss zunächst die äuÃeren zurückstellen. Und nur wer die inneren Stimmen hört, kann auch innere Stille finden. Das ist nichts, das wir wie einen Fernseher ein- und ausschalten können. Es ist ein Prozess, ein Weg, auf den wir uns einlassen.
Ich bin überzeugt, wir brauchen Stille auch, um Gott zu finden. Mitten im Getöse des Alltags kann ich mich nicht mit den groÃen Fragen des Lebens befassen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wie bekommt mein Leben Sinn? In der Stille finde ich Raum, um mich solchen Fragen zu stellen, mein Leben zu sortieren, zu fragen, was wichtig ist und was irrelevant. Wenn ich auf Abstand gehe zum Weltgeschehen, zu den Anfordernissen meines Alltags, dann ordnet sich so manches neu. Denn wenn ich mich nach Stille sehne, zeigt das ja
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