Sehnsucht nach Owitambe
antwortete ihm, gleichzeitig war ihre Neugier geweckt. Der junge Fürst schien Geheimnisse zu haben.
»Dann warst du also damals heimlich in der Stadt?«
Mukesh hob verschwörerisch zwinkernd den Zeigefinger vor die Lippen.
»Aber nicht verraten!«
»Ich dachte immer, niemand kann unbemerkt diesen Palast verlassen.«
»Es gibt Mittel und Wege, wie es doch möglich ist«, meinte Mukesh verschmitzt. »Ich kenne nicht nur einen Geheimgang im Palast, der hier hinausführt.«
»Und warum tust du das? Ich meine, was ist da draußen so Besonderes?«
Der junge Fürst sah sie kopfschüttelnd an.
»Du scheinst aber auch wirklich gar keine Ahnung zu haben.«
Er klang amüsiert, aber dann wurde er wieder ernst. »Das alles hier sieht nur von Außen betrachtet so wunderbar aus«, klagte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie eng das Leben eines Mitglieds des königlichen Hofes ist. Jeder Tag, jede Stunde verläuft nach strengen Vorgaben. Persönliche Vorlieben, Neigungen, Wünsche und Träume sind uns nur in sehr engen Grenzen erlaubt. Meine Geschwister haben sich daran gewöhnt, aber ich war für ein paar Jahre mit dem Thronfolger in England. Die Zeit dort hat mich vieles anders sehen lassen. Ich fürchte, dass mich der Kontakt zu euch Europäern sehr verändert hat.« Er erzählte Ricky, dass sein Vater plante, ihn als engsten Berater des zukünftigen Maharanas zu empfehlen, aber er verspürte keinerlei Lust, darin seine Zukunft zu sehen.
»Der junge Prinz ist launisch und faul. Seine Stimmungen sind nur schwer zu ertragen. Aber das ist nicht das Schlimmste.« Er machte eine kleine Pause, in der er zu überlegen schien, inwieweit er sich ihr anvertrauen konnte. Rickys bernsteinfarbene Augen weiteten sich vor Neugierde, sodass der schmale helle Streif um ihre Pupillen zu leuchten begann. Mukesh sah sich ermuntert. »Ich finde, dass sich das indische Volk vom Joch der Engländer befreien sollte. Viel zu lange waren der Maharana und die Maharadschas die Marionetten der englischen Königin«, verriet er ihr mit gedämpfter Stimme. Er achtete darauf, dass ihnen niemand zuhörte. »Die indischen Herrscher genießen ihren Reichtum und lassen zu, dass unser eigenes Land ausblutet. Entweder sie übernehmen wieder Verantwortung für ihr Volk oder sie müssen abdanken. Das ist nicht nur meine Meinung. Es gibt viele Inder, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass England endlich seine Kolonialansprüche auf Indien aufgibt.« Mukesh unergründlich schwarze Augen funkelten im Licht der Kristalllüster. »Hast du von dem Massaker in Amritsar im April dieses Jahres gehört?«
Ricky zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung von
Politik. Immerhin erinnerte sie sich wage. »Dort gab es einen Aufstand, nicht wahr?«
»Pah!« Mukesh winkte verächtlich ab. »Es war eine friedliche Demonstration gegen die britische Kolonialmacht. Die indische Bevölkerung ist es leid, für die Briten und nicht für ihr eigenes Land zu arbeiten. Der indische Nationalkongress hat dazu aufgerufen; Mohandas Gandhi und seine Anhänger waren auch dabei. Viele tausend Menschen sind durch Amritsar gezogen. Doch dem englischen Gouverneur vom Punjab wuchs die Sache über den Kopf. Er befahl, die Demonstration aufzulösen. Brigadegeneral Reginald Dyer nahm sich daraufhin hundertundfünfzig mit Gewehren bewaffnete Fußsoldaten und sorgte dafür, dass die Demonstranten, als sie sich in einem von Mauern umgebenen Park befanden, diesen nicht mehr verlassen konnten. Er besetzte den einzigen Fluchtweg und ließ seine Männer auf die Menge feuern. Über fünfhundert unbewaffnete Demonstranten, Muslime, Hindus und Sikhs, Männer, Frauen und Kinder, wurden niedergemetzelt. Weit über tausend schwer verletzt …«
»Das ist ja entsetzlich!« Ricky war erschüttert. Niemals zuvor hatte sie sich Gedanken über das Verhältnis der Inder zu den britischen Besatzern gemacht. Mukeshs Augen funkelten vor Erregung. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Das Schlimmste daran ist, dass kein Fürst in ganz Indien daran Anstoß genommen hat. Sie tun einfach so, als ob sie das alles nichts anginge.«
Ricky begann zu verstehen. »Du fühlst dich also schuldig?«, fragte sie zaghaft. Mukesh nickte finster. »Am liebsten würde ich mich Gandhi anschließen und mit ihm und seinen Freunden für die Freiheit kämpfen. Aber dazu bin ich leider zu feige.«
»Wieso erzählst du mir das alles?«, fragte sie nun doch.
Mukesh betrachtete sie eingehend. Das Funkeln seiner Augen wurde
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