Sehnsucht nach Owitambe
stöhnte Ricky glücklich. Sie wand sich aus der Umarmung ihrer Mutter und trat etwas verlegen vor ihren Vater. Offensichtlich suchte sie nach entschuldigenden Worten. Doch Fritz dachte gar nicht daran, sie zu rügen. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und dann drückte auch er seine Tochter an sich, bis sie sich erneut beschweren musste. In all der Wiedersehensfreude standen die beiden Hijras gerührt daneben. Niemand nahm
wirklich Kenntnis von ihnen. Ricky musste ihre Geschichte erzählen und erst, als sie zu Ende gekommen war, wandte sich die Aufmerksamkeit den beiden Transsexuellen zu.
Jella erkannte Chitra, die Anführerin des Gurukulams, sofort. Ihre Tochter hatte Glück gehabt, dass sie ihnen und nicht schlimmeren Halunken über den Weg gelaufen war. Sicherlich waren die Hijras nicht der geeignete Umgang für sie. Chitra war mit allen Wassern gewaschen. Sie wusste, wie man aus der Angst der Menschen Profit schlagen konnte, und ging dabei nicht gerade zimperlich vor. Auf der anderen Seite kümmerte sie sich wie eine Mutter um ihre Schützlinge, half ihnen, ihr schweres Schicksal zu akzeptieren und sorgte dafür, dass diese sich nicht zu ausufernd verhielten. Sie hatte ein gutes Herz und damit ihre Wertschätzung verdient. Jella wusste genau, wie schwierig und auch gefährlich das Leben der Transsexuellen war. Sie waren ausgeschlossen von der strengen Kastengesellschaft und damit auch in gewisser Weise vogelfrei. Schon einige Male hatte sie schwere Verletzungen versorgen müssen, die die Hijras vom prügelnden Mob hatten einstecken müssen. Im Gegenzug rächten sich die Hijras mit Provokationen und Erpressungen. Deshalb war es umso erstaunlicher, dass die beiden Ricky freiwillig nach Hause gebracht hatten.
Jella faltete die Hände vor ihrer Brust und verbeugte sich.
»Namaste.«
Die beiden erwiderten ihre Verbeugung und lächelten freundlich zurück. Auch Fritz erwies ihnen seine Ehrerbietung.
»Wir sind euch natürlich zu großem Dank verpflichtet«, begann er. »Es war sehr großmütig von euch, unsere Tochter vor diesen Burschen zu retten.« Er räusperte sich kurz und griff dann in seine Jackentasche. »Wir werden uns selbstverständlich dafür erkenntlich zeigen.« Er zog ein Bündel Rupien heraus. Doch Chitra wehrte ihn beleidigt ab.
»Behalte dein Geld. Wir haben deiner Tochter wegen Memsahib
Dawa geholfen.« Sie verbeugte sich ehrerbietig vor Jella. »Du bist eine gute Frau. Ich segne dich und deine Familie.«
Mit ernster Miene hob Chitra ihre Hände in die Höhe und murmelte einen Segensspruch. Dann gab sie Rama ein Zeichen und wandte sich zur Tür.
»Warte!« Ricky eilte den beiden Hijras nach. Kaum bei ihnen angekommen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte erst Chitra und dann Rama einen schnellen Kuss auf die Wange.
»Danke«, murmelte sie verschämt. »Das werde ich euch nie vergessen.«
Rama schüttelte verwirrt den Kopf und ging rasch hinaus, aber Chitra wandte sich noch einmal um und zwinkerte Ricky gerührt zu.
Zurück nach Afrika
9 Monate später
»Ricky, Jella, nun beeilt euch doch endlich. Das Schiff wartet nicht auf uns!« Fritz winkte in dem chaotischen Getümmel am Hafen von Bombay einem Gepäckträger zu. Sofort umringte ihn eine Schar zerlumpter Gestalten, die sich auf die diversen Koffer und Taschen der kleinen Familie zu stürzen begann. Fritz musste ihnen Einhalt gebieten. Er suchte sich zwei vertrauenswürdig aussehende Träger aus und handelte mit ihnen einen Preis aus. In der Zwischenzeit hatten sich Jella und ihre Tochter endlich aus ihrer Rikscha geschält und den Fahrer für seine Dienste bezahlt. Es war drückend heiß, und am Horizont über dem graugrünen Meer türmten sich bereits neue, düstere Wolken für den nächsten ausgiebigen Regenguss auf.
»Wir sollten uns tatsächlich beeilen«, stöhnte Jella und fuhr sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch über ihr schweißnasses Gesicht. »Es wäre schön, wenn wir unsere Kabine noch vor der nächsten Sintflut erreichten!«
Sie griff nach ihrem Handgepäck und eilte Fritz hinterher auf den Kai zu, an dem der Postdampfer in Richtung Kapstadt auf sie wartete. Ricky folgte ihren Eltern und den Gepäckträgern missmutig. An der Absperrung, die nur die Reisenden und die Hafenbediensteten betreten durften, drehte sie sich nochmals um und beobachtete wehmütig das schmutzig bunte, ihr seit frühester Kindheit vertraute Leben auf den Straßen: Männer mit zerrissenen,
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