Sehnsucht nach Owitambe
plötzlich hart und unduldsam. »Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du eines dieser verwöhnten englischen Früchtchen bist, die sich für etwas Besseres halten. Es ist dein Karma.
Unser Karma ist ein anderes. Ich bin als Mann geboren worden, habe mich aber immer als Frau gefühlt. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, denn ich hätte auch als Mann mit Männern Liebe machen können.«
»Hör auf, das ist eklig«, flehte Ricky angewidert. Aber Chitra fuhr ungerührt fort. »Ja, wie wahr. Es ist eklig, aber es kommt noch viel schlimmer. Du wirst es nicht gern hören, dennoch verlange ich es von dir. Ich will, dass du meine Geschichte hörst.«
Chitras versuchte, ihre Stimme nüchtern klingen zu lassen; dennoch hörte Ricky heraus, dass sie bewegt war. »Meine männlichen Geschlechtsorgane waren nur kümmerlich ausgeprägt, verstehst du? Ich war weder ein richtiger Mann noch eine Frau. Meine Familie hat mich schon von klein auf spüren lassen, dass ein Fluch auf mir lastet. Als ich sechs Jahre alt war, brachte mich mein Vater in den Gurukulam zu den Hijras. So macht man das, wenn man solch ein Zwitterwesen wie mich auf die Welt gebracht hat. Ich habe geweint und meinen Vater angefleht, mich wieder zu meiner Familie zurückzubringen, aber er hat sich nicht einmal umgedreht, als er gegangen ist. Wie ein lästiges Stück Dreck hat er mich zurückgelassen. Doch mein neues Leben war gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Die Hijras waren gut zu mir. Sie waren mir Vater und Mutter – viel besser, als es meine leiblichen Eltern je vermocht hatten. Und weißt du auch, warum? Weil hier alle so sind wie ich. Wir sind keine richtigen Männer und auch keine richtigen Frauen. Unser Körper ist anders, aber glaub mir, wir haben die gleichen Gefühle wie jeder andere Mensch auch. Leider respektieren uns nur wenige. Deshalb zwingt uns unser Anderssein zu einem anderen Leben. Ich wurde schon als Kind kastriert. Sie haben mir die Eier und meinen Schwanz abgeschnitten. Was übrig ist, sieht wie eine weibliche Vagina aus.«
Ricky wagte einen verschämten Blick. Chitras Erzählung
ekelte sie, aber sie begann auch zu begreifen, dass die Hijras ein schreckliches Schicksal teilten. Mitleid regte sich in ihr.
»Aber das ist ja schrecklich«, meinte sie hilflos.
Chitra runzelte amüsiert die Stirn.
»Wie süß!«, kicherte sie. »Du zeigst Mitleid, das tun nur wenige. Aber ich kann dich beruhigen. Unser Leben ist nicht schrecklich. Es ist alles nur eine Frage der Sichtweise. Ich wollte die Kastration, denn sie bedeutete für mich eine Befreiung. Durch diesen Eingriff wurde ich zur Dienerin der Göttin Bahuchara Mata. Sie ist die Göttin der Gewaltlosigkeit. In ihrem früheren Leben war sie eine Prinzessin gewesen. Sie hat ihren Mann kastriert, weil er es vorzog, anstatt bei ihr im Ehebett zu liegen, in den Wald zu gehen und sich dort wie eine Frau zu benehmen. Durch die Kastration wurde ich zu einer Geweihten. Ich kann verfluchen und segnen. Davor haben die meisten Menschen große Angst. Du hast es gestern Nacht ja selbst gesehen.«
»Dann hat der Mann also doch noch gezahlt?« Ricky konnte Chitra auf einmal nicht mehr richtig böse sein.
»Und wie! Wir werden die nächsten Tage nicht arbeiten müssen«, meinte sie zufrieden.
»Was arbeitet ihr denn?« Wie naiv ihre Frage war, wurde Ricky erst bewusst, als Chitra mit einem Schmunzeln auf die Wandmalereien deutete.
»Das ist ein… ein Bordell, nicht wahr?«
Ricky war nicht wirklich schockiert. Sie hatte in der letzten Nacht so viel Unglaubliches erlebt, dass sie im Moment nichts mehr erschrecken konnte.
»Es ist schon in Ordnung, wenn du dich jetzt noch mehr vor mir ekelst«, meinte Chitra mit einem leicht wehmütigen Bedauern. »Aber es war ein Versuch wert, dir etwas zu erklären.«
»Ich ekle mich nicht vor dir«, gestand Ricky zu ihrer eigenen Überraschung. »Ich … ich habe nur mit Menschen wie euch
noch nie zu tun gehabt. Wahrscheinlich hat mir meine Mutter sogar schon einmal von euch erzählt, und ich habe wieder einmal nicht zugehört.«
»Oh, das glaube ich nicht«, lachte die Hijra bitter. »Welche Mutter würde schon von uns erzählen!«
»Meine Mutter ist anders«, entgegnete Ricky. Der Gedanke an sie stimmte sie traurig. »Sie ist – oder war – anders als viele Frauen. Sie war Ärztin, bevor sie krank wurde. Sie behandelte die Menschen in der Stadt, die kein Geld haben.«
Chitra musterte Ricky ungläubig. »Es gibt nur eine Weiße, die sich um die Armen in der
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